Die Wolke
Stunde kehrte sie zu Janna-Berta zurück.
»Entschuldige«, sagte sie.
»Hier weint jeder, wenn ihm danach ist«, sagte Janna-Berta.
»Ich kann das nicht«, sagte Helga.
Sie hatte mit dem Arzt gesprochen. Er hatte ihr noch nicht erlaubt, Janna-Berta mitzunehmen.
»Ich werde dafür sorgen, daß du in eine Hamburger Klinik kommst«, sagte sie. »Dort ist zwar auch Personal für die Katastrophengebiete abgezogen worden, aber trotzdem wird's dir dort bessergehen. Du wirst in einem Zweibettzimmer liegen –«
»Ich bleibe hier«, sagte Janna-Berta, ohne zu überlegen.
Helga hob die Schultern. »Wie du willst«, sagte sie. »Ich werde dich nicht zwingen. Du bist alt genug, um zu wissen, was du tust. Aber überleg dir's gut.«
Beim Abschied wurde Helga lebhaft. Sie redete Janna-Berta zu, eine Mütze aufzusetzen.
»Jedenfalls wenn du dann draußen bist«, sagte sie. »Oder willst du die Leute absichtlich schockieren?«
»Ich hab nichts zu verheimlichen«, sagte Janna-Berta. »Ich bin kahl. So ist es. Damit muß ich leben.«
Dann beschwor Helga Janna-Berta, den Schlitzer Großeltern, die noch immer auf Mallorca waren, nichts vom Tod der Eltern und Brüder zu verraten.
»Den Schock könnten sie nicht verkraften«, sagte sie. »Vielleicht können wir's ihnen später einmal – nach und nach –«
Auf Janna-Bertas Frage, wo denn die Großeltern nach ihrer Heimkehr bleiben sollten, zeigte sich, daß Helga schon alles geregelt hatte: Opa Hans-Georg und Oma Berta sollten, bis die Sperrzone DREI aufgehoben würde, bei ihr wohnen.
»Ich werde versuchen, ihre Rückkehr so lange wie möglich hinauszuzögern«, meinte sie. »Je später sie zurückkommen, desto mehr hat sich hier das Leben wieder normalisiert.«
Den beiden alten Leuten wollte sie erzählen, daß Sohn und Schwiegertochter mit den beiden Enkeln in einem Spezialsanatorium nachbehandelt würden, das für Besucher gesperrt sei.
»Nein«, sagte Janna-Berta. »Jedenfalls ich mach dabei nicht mit.«
»Willst du, daß deinen Großeltern das Herz bricht?« fragte Helga.
Janna-Berta sah sie an, ohne zu antworten.
»Dann sei wenigstens still und sag ihnen gar nichts«, bat Helga. Sie strich Janna über den kahlen Kopf. Drei Wochen noch, habe der Arzt gesagt. Nur noch drei Wochen.
»Dann komm ich dich holen«, sagte sie. »Hamburg wird dein neues Zuhause. Denk dran, wenn du dich elend fühlst.«
»Und Almut und Reinhard?« fragte Janna-Berta. »Ich wollte eigentlich zu ihnen –«
»Ich weiß nicht, wo sie jetzt sind«, sagte Helga.
»Hast du sie in der Kartei gesucht?« fragte Janna-Berta.
Helga zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Mich mußt du nicht schonen«, sagte Janna-Berta.
»Nehmen wir an, sie leben«, sagte Helga etwas ungeduldig.
»Dann sind sie auf jeden Fall nicht mehr in ihrer Wohnung und hausen irgendwo als Evakuierte. Da kannst du sie nicht noch mehr belasten. Bei mir hast du dein eigenes Zimmer. Die Friemels aus Haßfurt sind seit der Katastrophe auch bei mir. Erinnerst du dich an sie? Verwandte von Oma Berta. Aber sie bleiben höchstens bis zur Aufhebung der Sperrzone DREI. Und sie sind sehr ruhige Leute –«
Als sie gegangen war, verschränkte Janna-Berta die Arme unter dem Kopf und starrte zur Decke. Um die Mittagszeit erfuhr sie, daß Ayse tot war.
In den drei Wochen, die sie weiter in Herleshausen bleiben mußte, starben noch viele Kinder. Es waren träge dahinfließende Tage. Die einzige Abwechslung boten die Nachrichten vom Tagesgeschehen – und die Träume.
Manchmal schien es Janna-Berta, als lebte sie in den Nächten intensiver als tagsüber. Während des Tages dämmerte sie nur vor sich hin, gequält von Brechreiz, Fieber und Kopfschmerzen. Schon den Kopf zu heben, machte ihr Mühe. Wenn Tünnes sich ihrem Bett näherte, schloß sie die Augen.
Aber vor den Nächten fürchtete sie sich. Da erschoß Herr Benzig auf dem Schulhof einen prächtigen Collie. Elmar, der Klassenbeste, stand auf dem Balkon des Hauses am Hang und ließ sein Taschentuch im Wind flattern.
»Südostwind!« schrie er. »Südostwind!«
Die Trettners und die Miltners versuchten, über die Mauer am Bad Hersfelder Bahnhof zu klettern, während sie, Janna-Berta, auf dem Bahnsteig zum zweiten Mal die Heubler-Kinder im Wirbel der andrängenden Menge verlor. Wieder hörte sie die kleinen Mädchen schreien, versuchte, ihnen zu helfen, erreichte sie nicht, fand sie nicht mehr.
Schweißgebadet wachte sie auf.
Aber es dauerte nicht lange, da stand sie
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