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Die Wolke

Die Wolke

Titel: Die Wolke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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Foto!«
    Das Mondlicht wanderte an der Saalwand entlang. Ayse stöhnte. Janna-Berta streckte ihren Arm hinüber und tastete nach ihr. Sie fand Ayses Hand. Die war sehr heiß. Sie rief die Schwester. Die Tür zum Gang stand auf. Eine fremde Frau schaute herein.
    »Fieber?« fragte sie. »Deswegen brauchst du doch nicht so einen Lärm zu machen. Wer hat denn hier kein Fieber? Schwester Lotte ist eingeschlafen. Kein Wunder bei sechzehn Stunden Dienst ohne Pause. Laß sie schlafen. Morgen früh ist auch noch Zeit.«
    Janna-Berta hielt Ayses Hand fest. Sie fühlte den jagenden Puls. Sie versuchte sich wachzuhalten, aber die Augen fielen ihr zu. Sie träumte von Ulis Lehrerin. Die fuhr im Auto an Uli vorbei und rief zum Fensterspalt heraus: »Komm, steig ein, Uli. Wenn du dich auf den Koffer setzt und den Kopf einziehst, könnte es gehen!«
    Uli, mit schmutzigem Gesicht und schmutzigem Hosenboden, drehte sich nach Janna-Berta um und sah sie fragend an.
    »Steig ein, Uli, steig ein!« schrie Janna-Berta. »Die Wolke kommt!«
    Uli rannte neben dem Wagen her, aber der Wagen blieb nicht stehen.
    »Ich kann nicht halten!« rief die Lehrerin. »Hinter mir kommen so viele!«
    »Machen Sie die Tür auf!« rief Janna-Berta. »Uli kann im Fahren reinklettern!«
    Aber die Tür klemmte. Uli hängte sich von draußen an die Tür und wurde mitgeschleift.
    »Die Wolke, die Wolke!« hörte sie sich schreien.
    Der nächste Wagen hinter dem der Lehrerin scherte aus, um rechts zu überholen. Eine Staubwolke wirbelte auf, ein dumpfer Schlag, und der Wagen raste davon.
    »Schrei doch nicht so«, sagte die Schwester und rüttelte Janna-Berta. »Du weckst ja alle auf.«
    Janna-Berta schreckte hoch und ließ Ayses Hand los.
    »Uli ist so heiß«, stammelte sie.
    »Wer?« fragte die Schwester.
    »Ayse«, sagte Janna-Berta. »Ayse.«
    Die Schwester beugte sich über Ayses Bett, dann rollte sie es hinaus. Zurück blieb ein leerer Platz zwischen den Betten.
    »Ist sie tot?« fragte Janna-Berta.
    »Pst«, flüsterte die Schwester. »Wieso tot? Sie kommt in einen anderen Saal, das ist alles.«
     
    Nach dem Frühstück kam Helga wieder. Sie hatte die Nacht in einem Dorfgasthof verbracht.
    »Du wirst nicht viel geschlafen haben«, sagte sie. »Ich habe auch eine schlimme Nacht hinter mir.«
    Sie zögerte. Sie sah sich um.
    »Unglaubliche Zustände sind das hier«, sagte sie. »Und das in der reichen Bundesrepublik.«
    »Sie sind nicht auf dem laufenden!« rief ihr ein Vater zu, der am übernächsten Bett sein Kind versorgte. »Wir sind jetzt ein Entwicklungsland!«
    Helga antwortete nicht.
    »Warum fragst du nicht nach Uli?« sagte Janna-Berta. »Er steht bestimmt nicht in der Suchkartei. In keiner Kartei und in keiner Liste.«
    »Vielleicht hab ich Angst vor der Antwort«, sagte Helga.
    Janna-Berta sah Helga an. Sehr aufrecht saß sie da, ein Muster an Selbstbeherrschung.
    »Nie die Haltung verlieren!« hörte Janna-Berta Opa Hans-Georg sagen. Er mochte es nicht, wenn man in Tränen ausbrach. Aber Vati war nicht nach Opa Hans-Georgs Vorbild geraten. Sie hatte ihn weinen sehen. Zum Beispiel damals, als Uli schwerkrank in der Klinik gelegen hatte und der Arzt den Eltern nicht viel Hoffnung geben konnte. Oder einmal nach Tschernobyl, als Vati und Mutti sich wochenlang so viel Mühe mit der Vorbereitung einer Veranstaltung gegeben hatten: Sie hatten ein Forum geplant, mit Vertretern aller Parteien, die den Bürgern zum Thema WIE SICHER SIND UNSERE ATOMREAKTOREN? Rede und Antwort stehen sollten. Im letzten Augenblick hatten alle Politiker bis auf einen abgesagt. Da hatte Vati die Nerven verloren. Mutti war's gewesen, die die Veranstaltung doch noch rettete. Nachdem sie vom leeren Podium herunter kommentarlos die Absagebriefe der Politiker verlesen hatte, ließ sie die Bürger reden. Janna-Berta hatte auf der Treppe zum Podium gesessen und zugeschaut. Sie hatte nicht viel von dem verstanden, was die Leute zu sagen hatten, aber es war spannend gewesen, wie erregt, wie ängstlich, wie zornig sie gesprochen hatten. Und der ganze Saal war voll von beißendem Zigarettenqualm gewesen.
    »Er war mit mir zusammen bis zuletzt«, sagte Janna-Berta. »Wir waren nicht mit nach Schweinfurt gefahren. Von Schlitz sind wir auf den Rädern geflüchtet. Er ist tot. Von einem Auto überfahren.«
    Helga stand auf, drehte sich um und ging hinaus. Janna-Berta sah ihr durchs Fenster nach. Helga überquerte den Vorplatz und verschwand zwischen den Häusern.
    Erst nach einer guten

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