Die Wolke
Küchenschrank nahm sie sich noch eine Packung Kekse, dann schlich sie sich aus der Wohnung.
Sie wanderte südwärts durch die Stadt. In einem Second-hand-shop kaufte sie sich ein leuchtend rotes T-Shirt und eine weiße Hose. Sie ließ die neuerworbenen Sachen gleich an. Mit einem Rest von sieben Mark fünfzig trabte sie davon.
Den ganzen sommerblauen Morgen lief sie aus der Stadt hinaus, bis sie an einer Tankstelle jemanden fand, der sie mitnahm.
In fünf Etappen erreichte sie Wiesbaden. Bis auf eine alte Frau waren alle, mit denen sie fuhr, Hibakusha.
Es dämmerte schon, als sie in Wiesbaden ankam. Sie hatte keinen Pfennig Geld mehr bei sich. Unterwegs hatte sie sich eine Tüte mit Pommes frites, eine Bockwurst und etwas zu trinken gekauft. Sie vermutete, daß nur die Coca-Cola »sauber« gewesen war. Aber sie hatte nicht mehr Geld bei sich gehabt und war so hungrig gewesen. Sie war ja sowieso schon verseucht und verloren.
Jetzt war sie müde. Langsam schleppte sie sich den steilen Bierstadter Berg hinauf und fragte sich durch bis zum Wartturm. Da sie im Dunkeln die Hausnummern nicht entziffern konnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als an einer Tür zu schellen.
Schritte schlurften heran. Janna-Berta versuchte sich zu erinnern, wo sie eine ähnliche Szene schon einmal erlebt hatte. Eine alte Dame im Hausmantel öffnete. Mißtrauisch starrte sie Janna-Berta an, die sich für die späte Störung entschuldigte und nach der Hausnummer fragte. Als Janna-Berta bestätigt bekam, daß es die Nummer war, die sie suchte, und sich nach dem Eingang zur Wohnung von Almut und Reinhard Sommerfeld erkundigte, sagte die alte Dame ungehalten: »Es ist Viertel nach zehn. Ein bißchen spät für Besuche.«
»Ich komme aus Hamburg«, sagte Janna-Berta.
»Ohne Gepäck?« fragte die Alte. »Nur mit einem Plastikbeutel? Das glaube dir, wer will.«
»Almut Sommerfeld ist meine Tante«, sagte Janna-Berta. »Sie erwartet mich.«
»Mach dir keine Hoffnungen, hier wohnen zu können«, sagte die Alte. »Die Wohnung ist schon für drei zu klein. Hier kommt mir keiner mehr rein. Keiner!«
Damit schlug sie die Tür zu. Janna-Berta tappte die Stufen hinunter und schlich ums Haus. Aus einem halbgeöffneten Kellerfenster schimmerte Licht. Sie bückte sich und klopfte. Reinhard erschien, horchte und näherte sich dem Fenster.
»Ich bin's, Janna-Berta«, flüsterte sie.
»Mädchen!« rief Reinhard und öffnete das Fenster. »Komm rein!«
Sie fand, daß sie jetzt keine Zeit hatte, nach der Kellertür zu suchen. Sie setzte sich in den Kies und schwang die Beine über die Fensterbank. Reinhard fing sie auf. »Willkommen, Janna-Berta«, sagte er.
12
Es war wirklich eng in der Kellerwohnung, die der Hausbesitzerin früher als Gästesuite gedient hatte. Almut und Reinhard schliefen in dem kleinen Schlafzimmer, Reinhards Vater auf der Wohnzimmercouch. Wohin nun mit Janna-Berta?
Man fand keine bessere Lösung, als eine Matratze in den Flur zu legen. Aber noch war keine überzählige Matratze da. So legte sich Reinhard in der ersten Nacht zu seinem Vater auf die Couch, und Janna-Berta kam bei Almut unter.
Die beiden schliefen lange nicht, obwohl Janna-Berta nach der langen Fahrt todmüde war. Sie erzählte Almut von der Schule und von Helga und der Perücke. Nach einigem Zögern auch von Elmars Tod.
»Es ist gut, daß du gekommen bist«, sagte Almut. »Ich hätte dich gleich mitnehmen sollen. Unser Leben hier ist zwar ein einziges Provisorium – aber vielleicht ist es gerade das, was du jetzt brauchst.«
»Ich brauch keine geordneten Verhältnisse«, flüsterte Janna-Berta. »Nichts von dem, was ich in Hamburg hatte.«
»Schau halt, wie du mit uns klarkommst«, sagte Almut. »Wir selber versuchen, uns nicht gegenseitig auf die Nerven zu fallen. Was wir dir bieten können, ist der schwache Trost, daß auch wir manchmal verzweifelt sind und nicht weiterwissen – und daß du hier ›Scheiße‹ sagen kannst, wann immer dir danach ist.«
Mit einem Gefühl von Geborgenheit schlief Janna-Berta ein, träumte nichts und wachte auch nicht auf, als ihr Almut, in einem Angsttraum wild um sich schlagend, gegen das Schienbein trat.
Sie wollte sich den anderen gern nützlich machen. Aber sie kam gar nicht dazu, nach Arbeit zu fragen. Gleich am nächsten Morgen nahm Reinhards Vater sie mit. »Paps«, wie ihn alle nannten, hatte die Küche übernommen und machte die Einkäufe, während Reinhard unterrichtete und Almut für eine neugegründete
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