Die Wolke
Er hielt endlose Vorträge, und alles sah er nur noch negativ. Wenn ihn jemand reizte, wurde er aggressiv. Aber wenn sie nicht mit Helga und den Friemels zusammensein wollte – wen hatte sie außer ihm?
Meistens trafen sie sich vor dem Schulgebäude, denn er wohnte in der entgegengesetzten Richtung. Fast immer war er schon vor ihr da. Wenn das Wetter schön war, schlenderten sie in den nächsten Park. Wo Hamburg grün war, so meinte Janna-Berta, sah es Schlitz ein bißchen ähnlich.
»Grün?« sagte Elmar verächtlich. »Wo ist denn diese Betonwüste grün?«
»Mit wem unterhältst du dich, wenn du daheim bist?« fragte sie ihn einmal.
»Du meinst, bei meinen Verwandten?« fragte er zurück. »Mit niemandem. Mein Vater brütet vor sich hin, und meine Verwandten interessieren sich für nichts. Jedenfalls nicht für das, was mir wichtig ist.«
Janna-Berta nickte.
Einmal empfing Elmar sie mit dem Ruf: »Wir werden arm, Janna-Berta!«
»Wer?« fragte sie verdutzt. »Du und deine Eltern?«
»Ich spreche von uns allen«, sagte er ungehalten. »Grafenrheinfeld macht uns arm. Die vielen Obdachlosen und Arbeitslosen und Kranken! Die bringen nichts ein. Die kosten nur. Und die Landwirtschaft ist sowieso kaputt. Der Verkehr ist halb gelähmt. Die Industrie ist gestört –«
»Siehst du denn was von Armut?« fragte Janna-Berta erstaunt. »Ich nicht.«
Elmar sah sie entrüstet an. »Wenn du die Augen aufmachst, siehst du's überall! Die Verkäufe, die Ausverkäufe! Siehst du die vielen ZU-VERKAUFEN-Schilder nicht? Und die vielen Anzeigen in den Zeitungen: Umständehalber abzugebend Gehst du blind durch die Stadt? Und liest du keine Zeitung?«
Janna-Berta verteidigte sich. In Hamburg war ihr alles neu. In Schlitz wären ihr solche Schilder aufgefallen. Und was die Zeitung betraf: Die Anzeigenseiten hatte sie noch nie gelesen.
»Solltest du aber!« rief Elmar. »Sie inserieren um ihr Leben. Aber sie kriegen ihr Zeug nicht los, egal, ob's eine Fabrik oder ein Pelzmantel ist. Supermärkte, Ladengeschäfte, Wohnhäuser, alles kann man zu Spottpreisen bekommen. Eine Zwangsversteigerung nach der anderen!«
Von all dem wußte Janna-Berta nichts. Elmar war empört, daß sie sich auch die Nachrichtensendungen im Fernsehen nicht ansah. Janna-Berta seufzte. Meistens saßen die Friemels vor dem Fernseher, und denen ging sie aus dem Weg.
»Wer sich nicht informiert, verdrängt«, sagte Elmar. »Würde ich dann so herumlaufen?« fragte sie zornig.
Einmal kam Elmar auf seine Verwandten zu sprechen.
»Das Armwerden ist für sie noch nicht das Schlimmste«, sagte er, »obwohl sie's hart ankommt, vom hohen Roß herunter zu müssen. Viel schlimmer ist die Angst, die sie jetzt kriegen: Angst vor Unruhen, Angst vor dem Pleitegeier, Angst vor den Langzeitfolgen. Tante Hedi schläft nicht mehr gut, und Onkel Kurt schreit bloß noch alle an. Wir sind zäh, wir Deutschen, und wenn's drauf ankommt, vollbringen wir Wunder, Wirtschaftswunder. Aber einen Silberstreifen am Horizont müssen wir sehen können.«
Schon damals, in Fulda, hatten sich die Klassenkameraden zugezwinkert, wenn er so in Fahrt gekommen war. Jetzt sprach er noch hektischer, noch besessener. Janna-Berta starrte ihn gebannt an. War er noch ganz bei Trost? Vielleicht nicht. Zwar schimmerte immer noch etwas auf von seinem alten Musterschülerglanz. Immer noch war er imstande, eine Lage schnell zu übersehen, Probleme zu durchschauen. Aber das, was sie früher so sehr an ihm bewundert hatte, konnte er nicht mehr: Lösungen finden. Ihr schien, als ob er daran am meisten litt.
»Lösungen?« sagte er, wenn sie danach fragte. »Ich sehe keine. Weder für mich noch für irgendwen.«
Er blieb stehen und sah sie an. »Ich wollte Arzt werden«, sagte er.
»Und ich wollte Kinder haben«, sagte Janna-Berta.
Aber Elmars Drang, Vorträge zu halten, ließ nach. Je näher das Ende des Schuljahres kam, desto schweigsamer wurde er. Zwar traf er sich noch mit ihr, aber er trottete stumm neben ihr her. Jetzt sehnte sie sich nach seinen Vorträgen. Sie sah sich die Nachrichten an und las die Anzeigenseiten.
Acht Tage vor Ferienbeginn wurde das Mädchen aus Bad Brückenau krank, und sie kam die ganze Woche nicht mehr zum Unterricht.
»Ich hab sie besucht«, berichtete der Junge aus Bamberg. »Es geht ihr schlecht.«
Auf die Frage der Klassenkameraden, was sie für eine Krankheit habe, sprach er von Lungenentzündung. Janna-Berta paßte ihn auf dem Schulhof ab und fragte:
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