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Die Wolke

Die Wolke

Titel: Die Wolke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudrun Pausewang
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Expertengespräch. Natürlich über die Katastrophe. Gerade sprach der neue Innenminister. Sie erwischte ihn mitten in einem Satz.
    »– Sie uns doch nicht die Alleinschuld geben!« rief er einem anderen in der Gesprächsrunde zu, den Janna-Berta nicht kannte. »Ich gebe Ihnen recht, daß wir in letzter Konsequenz verantwortlich sind dafür, daß nach Tschernobyl nicht alle Reaktoren abgeschaltet wurden. Aber bitte, wie ist es denn zu der Entscheidung gekommen, nicht abzuschalten: Es ist dazu gekommen in einem langen, demokratischen Entscheidungsprozeß. Und an diesem Prozeß waren alle beteiligt, Wissenschaftler, Politiker und nicht zuletzt doch auch der Bürger, der die Politiker gewählt hat. Und welcher Politiker hätte denn aus seinem Standpunkt in der Frage der Kernenergie ein Hehl gemacht? Nein, wenn Sie glauben, Sie hätten mit den Politikern die Alleinschuldigen ausgemacht, machen Sie es sich zu leicht. Wir alle sind schuld an dem, was geschehen ist, und wir alle müssen –«
    Janna-Berta kamen die steinernen Figuren auf dem Regal im Herleshausener Nothospital in den Sinn. Sie waren kühl und griffig gewesen.
    »Aber wir haben doch immer auf das Restrisiko hingewiesen!« rief der Vertreter der Kraftwerksbetreiber. »Das können Sie doch nicht bestreiten.«
    Einer wie der andere. Keiner wollte schuld sein.
    Sie schaltete den Fernseher aus und ging zu Bett.
    In der Nacht schlief sie wenig. Sie sah die Ferien vor sich liegen, in den Zeiten vor Grafenrheinfeld die schönsten Wochen des Jahres. Jetzt würden sie zu einem Meer von Einsamkeit, Langeweile und Traurigkeit werden. Sie fürchtete diesen schrecklichen Geburtstag mit einer endlosen Kette von Beileidsbezeugungen, mit sinnlosen Geschenken und einer Fülle von Vorurteilen. Sie sah sich in dunklen Kleidern neben Elmar stehen und spürte sich angesteckt von seiner Hoffnungslosigkeit. Sie sah Helga und die Friemels vertausendfacht bis hin zum Horizont.
     
    Am nächsten Morgen kehrte sie zurück in die leere Schule. Es roch nach ungelüfteten Jacken und nassen Tafellappen. Putzfrauen schrubbten die Gänge. Musik aus einem Kofferradio hallte durchs Treppenhaus. Im Sekretariat klapperte eine Schreibmaschine. Janna-Berta öffnete die Tür und bat die erstaunte Sekretärin um Elmars Adresse. Sie erhielt sie auf einem Zettel.
    »Du hast die Ferien aber auch nötig, was?« sagte die Sekretärin nach einem prüfenden Blick auf Janna-Bertas Gesicht. »Du bist ja fast durchsichtig.«
    Drüben in Barmbek also. Janna-Berta ging zu Fuß. Sie hatte viel Zeit. Auf einer Brücke blieb sie lange stehen, stützte die Ellbogen aufs Geländer und den Kopf in die Hände und schaute ins Wasser hinunter. Es war ölig. Regenbogenschlieren schimmerten.
    Elmar wohnte in einem mehrstöckigen Mietshaus. Als Janna-Berta es betrat, fragte sie eine Frau, die ihren Briefkasten leerte, nach Elmars Familie.
    »Die lassen sich nicht kondolieren«, sagte die Frau. »Da brauchst du dich nicht zu bemühen. Es macht niemand auf.«
    »Kondolieren?« fragte Janna-Berta. »Ist Elmars Mutter gestorben?«
    »Die Mutter nicht«, sagte die Frau, »der Junge. Ja, weißt du denn gar nicht –?«
    »Aber er war doch vorgestern noch –«, stammelte Janna-Berta und schluckte.
    »Hat Schluß gemacht«, sagte die Frau, »ohne jemand was davon zu sagen. Gestern vormittag hat ihn der Vater gefunden. Lag ganz friedlich im Bett. Tabletten. Wer weiß, wo er die her hatte. Sie haben ihn gleich fortgeschafft, aber da war nichts mehr zu machen. Die Kripo war auch hier. Hätten die sich sparen können. Der Junge hat das ganz allein erledigt. Nicht mal ein paar Zeilen hat er zurückgelassen. Armer Kerl. Hat keine Lust mehr gehabt. Er hat's wohl nicht ertragen –«
    Mit einem Blick auf Janna-Bertas Kopf verstummte sie.
    »Du kannst ja mal klingeln«, sagte sie schließlich. »Aber es waren schon ein paar Leute da, und keinen haben sie reingelassen.«
    Janna-Berta dankte, grüßte und ging. Sie stand wieder lange auf der Brücke, saß dann stundenlang in den Anlagen am Alsterufer und kam erst abends heim – so spät, daß sie niemandem zu begegnen brauchte, weder Helga noch den Friemels.
    In der Nacht faßte sie einen Entschluß.
     
    Gegen Morgen packte sie ein bißchen Unterwäsche, ein Ersatzpaar Schuhe und die Geldbörse mit ihrem Taschengeld in einen Plastikbeutel. Das Päckchen mit der Perücke, das noch immer auf dem Sessel lag, dort, wo Helga es nach dem Einkauf abgelegt hatte, rührte sie nicht an. Aus dem

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