Die Wolke
erreichten, war das Getümmel bereits in vollem Gang. Die französische Polizei hatte die Demonstranten am Ortsrand erwartet und zurückgedrängt. Janna-Berta löste sich von Tina, um Almut und Reinhard zu suchen.
»Wenn du mal nach Kolumbien willst«, sagte Tina, »dann schreib uns!«
»Ich will nach Schlitz«, antwortete Janna-Berta.
»Schau bei uns rein!« rief ihr Frau Jordan zu und winkte.
Janna-Berta drängte sich durch die Menge, bis sie auf Almut stieß. Sie erfuhr, daß Reinhard festgenommen worden war. Erst gegen Abend kam er wieder frei. Er hatte eine Platzwunde auf der Stirn, notdürftig mit einem Heftpflaster überklebt. In seinen Brauen und seinem Schnurrbart klebte getrocknetes Blut. Der linke Hemdsärmel war an der Schulter fast ganz herausgerissen. Almut umarmte Reinhard stürmisch.
»Ich hab noch Glück gehabt, trotz allem«, meinte er, als sie heimfuhren.
Vier Demonstranten waren umgekommen, drei Franzosen und ein Deutscher. Über dreißig waren schwer verletzt worden, darunter auch einige Polizisten. Man erzählte sich, daß es unter den Polizisten harte Auseinandersetzungen gegeben habe: Viele hätten sich geweigert, gegen die Demonstranten anzugehen, manche hätten sich mit ihnen solidarisiert.
Der Bus hatte eine Panne. Erst um Mitternacht kamen sie heim, todmüde und ausgehungert. Während die Großmutter von den Kindern erzählte, schlich sich Reinhard hinter ihrem Rücken ins Badezimmer, um sie nicht zu erschrecken.
Drei Tage später wurde das Datum offiziell bekanntgegeben, an dem die Sperrzone DREI aufgehoben werden sollte: der erste Oktober. Mit knapper Mehrheit war dieser Beschluß im Bundestag gefaßt worden. Der neue Umweltminister hatte die Verseuchung des Gebiets für abgeklungen und dessen Betreten für unbedenklich erklärt. Allerdings, so wurde betont, geschehe die Rückkehr auf eigene Gefahr.
Janna-Berta saß vor dem Fernseher, als diese Nachricht durchkam. Der ganze Clan saß davor, auch die Kinder. Eine Familie aus Frauenstein hatte den alten Kasten heraufgebracht, als Spende für das Zentrum. Aber Almut wollte ihn erst am Tag vor der Einweihung dort aufstellen.
»Sonst hören alle auf zu streichen und zu tapezieren«, sagte sie. »Ich kenn doch die Leute – und mich selber.«
Der Apparat wäre vor Grafenrheinfeld eine Zumutung gewesen. Das Bild war ganz verzogen. In seiner oberen Hälfte wurde alles Runde eierig. Die verzerrten Köpfe der Politiker lösten Gelächter aus.
»Wenn sie doch in Wirklichkeit so hohe Stirnen hätten!« rief Paps. »Wieviel größer wären dann ihre Gehirne!«
»Dann hätten sie die Sperrzone noch nicht aufgehoben«, sagte Almut zornig. »Das ist doch noch alles verseucht! Ein Wahnsinn, die Leute da hineinzuschicken. Und sie schämen sich nicht einmal, ihnen das Risiko zuzuschieben – und die Schuld, wenn's dann schiefgeht!«
»Da muß eine starke Lobby zugange gewesen sein«, meinte Reinhard.
»Geschäftsinteressen«, ließ sich Paps aus dem Hintergrund hören. »Und die Angst um den Besitz.«
»Und das Heimweh«, sagte die Großmutter.
Janna-Berta sah sie erstaunt an.
»Ich stamme aus Ostpreußen«, sagte sie. »Ich weiß, wovon ich rede.«
Der September war eine Kette strahlender Sonnentage. Reinhard brachte Nesselballen heim und rollte sie im Garten aus. Für die Kundgebung mußten noch Transparente gemalt werden. Helfer fanden sich ein, malten tagelang mit, wurden zu Freunden. Manche blieben über Nacht. Ein riesiges Spruchband, das über der Rednertribüne hängen sollte, wurde langsam fertig.
ES LEBE DAS LEBEN!
stand darauf. Daneben lagen andere Transparente im Gras, und die Frauensteiner Kinder standen am Zaun und gafften. Sie begriffen nicht den Sinn von Sätzen wie BETRÜGT DEN TOD! oder LASST EUCH NICHT ABSPEISEN! Sie rätselten an der Frage herum: WOLLT IHR WIEDER BEHAUPTEN, IHR HÄTTET VON NICHTS GEWUSST? Über HIBAKUSHA ALLER LÄNDER, VEREINIGT EUCH! kicherten sie. Nur zu einem Spruch nickten sie: ZUM TEUFEL MIT DEN POLITIKERN! Das hatten sie wohl auch schon zu Hause gehört.
Ruth und Irmela hopsten zwischen den Malern herum, wälzten sich im Gras und kletterten in die Wanne, die, mit Wasser gefüllt, in der Sonne stand. Wenn Janna-Berta erschien, liefen sie ihr entgegen und wollten schmusen und getragen werden. Reinhard hatte ihnen eine Schaukel gebastelt. Vom Schaukeln konnten sie nicht genug bekommen. Die Großmutter saß stundenlang daneben und schubste sie an, bis die Kleinen, rundherum zufrieden,
Weitere Kostenlose Bücher