Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
immer wieder sagen, dass das Unglück, das ihr widerfuhr, am besten mit Humor zu meistern ist, von dem sie zum Glück ja reichlich hat. Von einem Tag auf den anderen war es mit der Eigenständigkeit vorbei gewesen, und niemand ließ sie mehr machen, was sie wollte.
Auf den Schreck, den Stillstand um sie herum, das Licht am Ende eines dunklen Tunnels, vor das sich dann ein schemenhaftes Gesicht schob, das immer deutlicher wurde, bis sie schließlich erkannte, dass ein Rettungssanitäter sie anlächelte, folgte die zutiefst bestürzende Erkenntnis, dass sie kein einziges Wort mehr herausbrachte. Danach überkam sie nur noch eine unendliche Traurigkeit, die sie unaufhörlich weinen ließ, mehrere Tage und Nächte lang, bis ihr irgendwann bewusst wurde, dass sie zumindest noch in der Lage war, ein paar Laute auszustoßen, und sich mit ihrem Schicksal abzufinden versuchte. Sie sind bestimmt ein bisschen durcheinander, stimmt’s?, wurde sie gefragt, und man erklärte ihr, dass sie sich nicht wundern solle, der Schlaganfall habe ihre Erinnerungen ein wenig durcheinandergebracht – so als hätten diese fein säuberlich gestapelt in einer Kiste gelegen! –, weshalb es ihr nun schwerfalle, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. Nicht die von früher,Ihr phänomenales Gedächtnis möchte ich gern haben!, hatte der Doktor zu ihr gesagt, doch mit Ihrem Kurzzeitgedächtnis werden Sie vielleicht Probleme haben. Aber keine Sorge, das wird schon wieder, Sie müssen nur viel Geduld haben; ich sage Ihnen das ganz offen, weil ich weiß, dass Sie eine intelligente Frau sind, die es hasst, wenn man um den heißen Brei herumredet. Sie haben mich verstanden, nicht wahr? Und Dolors hatte tapfer genickt. Sie war dem Arzt dankbar gewesen, dass er sie wie einen erwachsenen Menschen und nicht wie eine Schwachsinnige oder ein kleines Mädchen behandelt hatte. Nicht so wie Leonor. Oder wie Teresa, die mit dem Flugzeug herbeigeeilt war. Ich muss dem Tod gerade noch mal von der Schippe gesprungen sein, hatte Dolors damals im Krankenhaus gedacht, Teresa kommt mich sonst nie mitten in der Woche besuchen. Und vielleicht habe ich ja wirklich nicht mehr lange zu leben …
Na, anscheinend haben die beiden jetzt genug. Wie lange ist das her, dass sie in Sandras Zimmer verschwunden sind? Dolors weiß es nicht genau, aber es hat lange gedauert, eine halbe Ewigkeit, und gleich werden sie herauskommen, und er wird gehen.
Oder doch nicht? Nein, er geht noch nicht, sie hört die beiden im Flur reden.
»Komm, ich stell dir meine Oma vor.«
Ihre Enkelin kommt ins Wohnzimmer, gefolgt von einem Jungen, der im gleichen Alter sein muss wie sie, allerdings um einiges größer ist und so satt und zufrieden aussieht, als hätte er soeben eine riesige Portion Erdbeeren mit Schlagsahne verdrückt. Arme Sandra, wann wird sie merken, dass die Männer von einem jungen Mädchen nur das eine wollen …
»Oma, ich möchte dir gern Jaume vorstellen … Jaume, das ist meine Oma.«
Sandra hat deutlich gesprochen, und auch ziemlich laut. Jaume tritt nun näher und gibt ihr die Hand. Dolors drückt sie lächelnd. Seine Hand ist groß und warm, ihre hingegen klein, knochig und kalt, was der Junge wohl von ihr denken mag? Liebend gern würde sie jetzt sagen, aber Sandra, was stellst du diesem jungen Mann eine so alte Frau wie mich vor, und würde dann einen Scherz über früher machen, um ihre Verlegenheit zu überspielen, doch sie kann ja kein verständliches Wort mehr herausbringen, weshalb sie ihn – Gottchen, er ist ja noch so feucht hinter den Ohren – noch einmal anlächelt und dann den Kopf zu ihrer Enkelin dreht.
Die nimmt jedoch nichts anderes mehr wahr als ihren Jaume, das sieht ein Blinder mit Krückstock. Sie ist bis über beide Ohren verliebt und in diesem Moment der festen Überzeugung, in der besten aller Welten zu leben, wie dieser Crèdul von Voltaire … oder Confiat … ach nein, wo hast du bloß deinen Kopf, Dolors, Candide hieß der! Gern würde sie ihr jetzt zuraunen, Mädchen, siehst du nicht, dass dein Jaume dich nicht auf die gleiche Art anschaut wie du ihn? Dass er bloß vor Begierde brennt? Er ist ein Mann!
Doch selbst wenn sie noch sprechen könnte, hätte es keinen Zweck, Sandra würde genauso weitermachen und sich noch dazu über sie ärgern, so wie Leonor seinerzeit, als sie sie zu überzeugen versucht hatte, dass Jofre nicht der Richtige für sie war. Dolors hatte es nämlich schon drei Meilen gegen den Wind gerochen,
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