Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
Antibiotikum. Alles läuft nach Plan, Dolors, hab nur noch etwas Geduld.
Vor zwei Tagen war Sandra in Ohnmacht gefallen. Sie war einfach umgekippt, während sie sich im Spiegel betrachtete, und kaum war sie wieder bei Sinnen – zum Glück waren Martí und Jofre zu Hause –, murmelte sie, ich bin so fett, ein richtiger Hefekloß. Vor lauter Schreck hatte sich auch Dolors von ihrem Sessel erhoben und war in den Flur geschlurft: Sandra war kalkweiß, und ihre Lippen waren blutleer, wie sie da auf dem Boden lag. Leg ihr die Beine hoch, los, mach schon, befahl Jofre seinem Sohn, ausnahmsweise konnte man auf ihren Schwiegersohn mal zählen, du musst sie so stützen, genau, Sandra, Sandra, Liebes, bist du okay, Sandra?
Zehn Minuten später kam Leonor nach Hause und schrie auf, als sie alle um Sandras Bett versammelt fand. Kind, was hast du, was ist los? Sandra hatte schon wieder etwas Farbe, doch sah sie aus, als wollte sie gleich anfangen zu weinen. Sie murmelte, ich bin zu dick, und keiner liebt mich, und dann ließ sie den Tränen freien Lauf. Aber, Kind, was redest du denn da? Wir lieben dich doch alle, schluchzend drückte Leonor ihre Tochter an sich, sodass Jofre sie am Arm zurückziehen musste, ja, sicher, aber lass sie, du erdrückst sie ja.
Vielleicht weint Leonor ja deshalb. Vielleicht fühlt sie sich schuldig. Aber da ist sicher noch etwas anderes im Spiel.
Wenn man etwas sehnlichst erwartet, kann es sein, dass es nicht geschieht. Und manchmal passiert es genau dann, wenn man schon gar nicht mehr daran glaubt.
In dem Jahr, in dem Dolors geplant hatte, sich für immer von Eduard zu befreien, bekam niemand von ihnen auch nur den kleinsten Schnupfen. In der ganzen kalten Jahreszeitwar Leonor erstaunlich gesund, dabei steckten sich junge Menschen doch immer gleich irgendwo an, aber sie bekam nur Zahnschmerzen wegen eines Backenzahns, der eine Füllung brauchte, sonst nichts.
Derweil lebte sie in der Buchhandlung wie in einer anderen Welt, es war Antonis Welt, die Welt der Bücher und der Träume. Das war das Leben, das wahre Leben. In all den Jahren war die Buchhandlung für Antoni und sie zu ihrem wirklichen Zuhause geworden. Wegen der Arbeit hatten sie oft Auseinandersetzungen, Antoni ging extrem methodisch vor, was Dolors’ Naturell vollkommen zuwiderlief. Davon abgesehen lief jedoch alles gut. Zu gut. Sogar Maria schien sie zu schätzen, und bei ihren seltenen Begegnungen sagte sie lächelnd zur Mitarbeiterin ihres Mannes: Ach, Dolors, ich wüsste nicht, was Antoni ohne Sie tun sollte. Dolors bekam bei diesem Lächeln leichte Beklemmungen, sie dachte, es ist schon eigenartig, dass sie in mir keine Konkurrenz sieht, sie ist eine Frau, ich bin eine Frau, und ich bin zwar nicht so jung wie sie, aber doch auch nicht älter als Antoni.
Sehen Sie sich das an. Der Arzt streifte vor Jofre, Leonor und Dolors Sandras Bluse hoch. Alle drei stießen einen entsetzten Schrei aus, ja, selbst Dolors, obwohl sie so etwas schon erwartet hatte. Sandra, die heulend ihr Gesicht im Kissen verbarg, sah aus wie eines dieser ausgemergelten Kinder im Fernsehen, mit denen den Wohlstandsbürgern bewusst gemacht werden soll, wie viele Kinder auf der Welt Hunger leiden müssen. Der einzige Unterschied war, dass die Mädchen auf der Mattscheibe schwarz waren, und Sandra war weiß. Ihre Enkelin bestand nur noch aus Haut und Knochen, ihre Rippen zeichneten sich ab, und ihre Bauchdecke war eingesunken. Leonors und Dolors’ Blickekreuzten sich, und Dolors hob die Augen zum Himmel und dachte, Gott sei Dank, endlich merken sie es.
Ja, es lief alles viel zu gut. Jahrelang. Bis Maria eines Tages beschloss, Antoni nach Ladenschluss abzuholen, und genau an dem Tag hatten er und Dolors noch was im Zimmer mit den verbotenen Bücher zu schaffen, wenn man es einmal so ausdrücken will. Sie ertappte sie mitten in der Inventur. Zum Glück war zu dem Zeitpunkt Eduard schon lange tot.
Ein ganzer Winter ohne Angina. O Gott, was für eine Katastrophe, dachte Dolors niedergeschlagen, als der Frühling Einzug hielt, jetzt muss ich auf den nächsten Winter warten. Doch dann kam alles anders: In den Sommerferien verbrachten sie ein paar Tage in den Bergen, und da, o Wunder, bekamen sie eine ansteckende Magen-Darm-Grippe, die den Einsatz von Antibiotika erforderlich machte. Krank wurde jedoch nicht Leonor, sondern sie beide, Dolors und Eduard. Das war die Chance ihres Lebens. Mit dem Zettel bewaffnet, auf dem genau aufgelistet war, gegen welche
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