Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
das alles kompliziert. Sandra hebt den Kopf, um Martí anzusehen, und alles, was sie erschüttert hat, fällt von ihr ab.
»Danke, Martí, du bist ein phantastischer Bruder. Was für ein Glück, dass ich dich habe. Sonst bleibt mir ja keiner mehr. Nicht einmal Mònica kümmert sich noch um mich.«
»Wie? Habt ihr euch gestritten?«
»Nein. Sie hat etwas mit dem Mathelehrer angefangen, und jetzt will sie nicht mehr zu mir kommen … Ich habe echt keine Ahnung, was das eine mit dem anderen zu tun haben soll.«
Dolors kann es sich nicht verkneifen und schaut zu Jofre. Für ihn ist die Welt zum Stillstand gekommen, das ist Dolors klar. Er ist weiß wie die Wand, so weiß, dass man meinen könnte, er falle gleich in Ohnmacht. Plötzlich springt er vom Tisch auf, murmelt eine Entschuldigung und rennt ins Bad, vermutlich muss er diesen Schlag erst mal verdauen, dass Mònica jetzt anscheinend lieber mit Zahlen zu tun hat als mit Philosophie. Vielleicht geht es aber auch darum, dass Jofre ihr im Gegensatz zu dem Mathelehrer am Ende des Schuljahres keine Eins geben kann, da er ja an einer anderen Schule arbeitet. Und dass eine gute Note in Hinblick auf das Abitur eine Menge regeln kann, das istja bekannt, wo doch heutzutage für jedes Studium ein guter Notendurchschnitt verlangt wird.
Sandra weint nicht mehr, sie wischt die Tränen fort, und Martí fängt wieder an zu essen. Die Ruhe nach dem Sturm, bloß Jofre bleibt verschwunden. Als Leonor besorgt nachschauen geht, stöhnt er hinter der Tür mit leidender Stimme, er habe Bauchschmerzen, die Sitzung dauere etwas länger.
Das Rückenteil
Das Rückenteil zu stricken geht immer viel leichter von der Hand, denn man hat ja bereits das Vorderteil als Vorlage. Vom Halsausschnitt abgesehen, ist der Rest vollkommen gleich, und da Sandras Pullover einen Rollkragen bekommt, muss sie nicht mal da sonderlich aufpassen.
Das ist vielleicht eine Heulerei in dieser Wohnung, Dolors kommt sich fast vor wie bei einer Trauerfeier. Was ist bloß auf einmal mit Leonor los, diese Tränenbäche ist Dolors nun wirklich bald leid, die Frauen heulen, und Jofre und Martí laufen mit Trauermiene herum, wobei natürlich jeder seine eigenen Gründe dafür hat.
Eigentlich ist das Rückenteil sogar ein wenig langweilig, denn wenn man nichts mehr nachmessen und ausrechnen muss, sondern nur das Gleiche noch mal zu stricken braucht, dann muss man auch nicht immer aufpassen wie ein Luchs. Es ist nicht wie früher, als sie ständig bei den Mädchen Maß nehmen musste und die kleine Leonor jammerte, es dann aber doch über sich ergehen ließ, denn wenn Kinder nicht ausgeschimpft werden wollen, lassen sie die Großen gewähren.
Aber nun mal ran an die Arbeit, Dolors. Leonor hat ihr die Maschen bereits aufgeschlagen, welche Farbe war jetztgleich noch einmal dran? … Ach ja, Blau, ein schönes, leuchtendes Blau, solch kräftige Farben mochte Dolors schon immer, vielleicht weil sie sie selbst nie tragen konnte, weil man sich in ihren Kreisen nur mit diskreten Farben kleidete und sie später dann ja auch Trauer trug. Allerdings war sie eines Tages der Meinung, nun sei es aber genug, auch die Trauer müsse irgendwann ein Ende haben.
Was auf einmal mit Leonor los ist, ist Dolors allerdings schon ein Rätsel. Heult sie etwa, weil Martí ausziehen will? Oder wegen Sandra? Das hat sie jedenfalls heute behauptet, als Jofre heimkam und sie wie ein Häufchen Elend dasaß. Dolors kann das nicht glauben, o nein, hinter den Tränen ihrer Tochter steckt bestimmt etwas ganz anderes. Diese Art Tränen kennt sie nämlich seit ewigen Zeiten, sie haben sich kaum verändert, seit ihre Tochter ein Baby war. Sie erkennt sie mit dieser überraschenden Leichtigkeit, mit der alle Mütter wissen, was das Weinen ihres Kindes bedeutet, aha, jetzt hat es sich wehgetan, jetzt hat es Hunger, jetzt will es Aufmerksamkeit.
Es kam die Zeit, da Eduard das Haus nicht mehr verließ und Dolors zwar das Wie geklärt hatte, nicht aber das Wann. Wenn sie es richtig machen wollte, musste ein Infekt her. Dolors fasste sich in Geduld und versuchte, die Augen vor dem zu verschließen, was aus diesem Mann geworden war, den sie da zu Hause sitzen hatte, um nicht vorzeitig irgendeine Dummheit zu begehen, die später die Spur zu ihr legen würde. Sie würde sicher nicht allzu lange warten müssen, tröstete sie sich derweil: Es war Herbst, und im Winter bekam immer der eine oder andere in ihrer Familie Angina. Und gegen Angina nimmt man ein
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