Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
und Antoni hat sich versteckt. Diese Sache mit der verbotenen Liebe führt dazu, dass man sich andauernd verstecken muss, denn was würde Martí wohl denken, wenn er hier einen Mann vorfände, der nicht sein Großvater ist, der sich aber über seine Großmutter beugt und sie küsst, vor allem, da Dolors für so etwas doch eigentlich schon viel zu alt ist? Nein, nein, würde Dolors ihrem Enkel dann sagen, fürs Küssen und die Liebe ist man nie zu alt.
Die verbotenen Bücher waren letztlich gar nicht so interessant gewesen, wie sie das immer gedacht hatte. Obwohl … natürlich waren sie es, alle Bücher waren interessant, doch nachdem sie im Leben schon so viel gelesen hatte, erwartete Dolors, dass diese ganz anders waren, dass in ihnen mehr stand als in anderen Büchern, dass in ihnen eine Art Geheimcode, irgendetwas Ungewöhnliches verborgen war. Dass das, was die Diktatur vierzig Jahre zensiert hatte, die Entdeckung des Jahrhunderts war.
Doch sie fand nichts dergleichen. Nichts sonderlich Überraschendes. Und so fragte sich Dolors, ob sie vielleicht die Fähigkeit verloren hatte, sich überraschen zu lassen. Sie fragte Mireia, die nie viel gelesen hatte und trotzdem wirkte, als besäße sie alles Wissen der Welt, ob man so etwas verlieren könne. Und Mireia, die Dolors’ hintersinnige Fragen nur allzu gut kannte, antwortete ihr, im Alter gehe einem nach und nach alles verloren, aber das sei auch gut so, denn es gebe Dinge, die so schwer seien, dass man einfach nicht mehr die Kraft hätte, sie mit sich herumzuschleppen.
Im Zimmer wird es wieder dunkler. Martí ist hinausgegangen, und Antoni ist wieder da und lädt sie zu einem Spaziergang ein. Ah, du hast dich unterm Bett versteckt, sagt sie. Staunend stellt sie fest, dass sie auf einmal wieder sprechen kann, dass ihr Gehirn wieder vollkommen in Ordnung ist. Antoni reicht ihr die Hand, komm, lass uns gehen. Und wohin?, fragt sie. Dahin, antwortet er und zeigt auf die Wand, wo sie auf einmal einen Schatten sieht. Ich kann wieder reden, hast du das gemerkt? Ja, natürlich kannst du reden. Warte, ich nehme diesen klappbaren Computer mit, dann kann ich dir mein Kätzchen zeigen. Lass den Computer, den brauchen wir nicht. Doch!, erwidertsie, aber als sie sich umdreht, stellt sie fest, dass er nicht mehr auf dem Rolltisch steht, Martí muss ihn wohl mitgenommen haben. Der Schatten an der Wand scheint ungeduldig zu winken. Los, komm, sagt Antoni, sonst verärgern wir ihn. Wen denn?, will Dolors wissen. Na ihn! Der Schatten wartet tatsächlich auf sie, und als sie näher kommen, beginnt er zu sprechen, wie seltsam, er hat eine ganz ähnliche Stimme wie Leonor. Du zuerst, sagt er zu Antoni und wendet sich dann Dolors zu, dich hole ich gleich. Dolors ist es nicht gewohnt, dass ihr jemand Befehle erteilt. Sie will schon unwirsch antworten, doch der Schatten ist bereits verschwunden. Dolors wartet eine ganze Weile, bis sie schließlich verschnupft ruft: Weißt du was? Ich gehe zurück in mein Bett, komm, wenn dir danach ist.
Leider bekommt sie nun kaum noch Luft, das spürt sie genau. Da sticht jemand eine Nadel in ihren gesunden Arm, und auf einmal stehen Leonor und Martí und Sandra und Teresa vor ihrem Bett. Leonor und Sandra weinen, aber das ist ja nichts Neues. Nicht normal ist allerdings, dass auch Teresa weint. Was hat sie, ihre Teresa? Und überhaupt, was tut sie hier, es ist doch gar nicht Sonntag?! Oder doch? Dolors will sie danach fragen, doch offensichtlich ist sie auf einmal wieder stumm, sie bringt kein Wort heraus. Sie lässt es gut sein, denn sie ist so müde, dass sie unbedingt schlafen muss.
Als sie die Augen wieder aufschlägt, stößt Leonor neben ihr einen kleinen Schrei aus, und kurz darauf ist ihr Zimmer wieder voller Leute, und Sandra drängt sich nach vorn an den Rand ihres Betts.
»Er ist unglaublich schön, Oma! Und er steht mir supergut, findest du nicht?«
Sandra trägt den Pullover. Ihren selbstgestrickten Pullover! Dolors mustert ihre Enkelin genau. Dann lächelt sie zufrieden. Wie viele Stunden hat sie daran gestrickt, immer wieder musste sie Teile auftrennen, doch sie hat es geschafft. Er ist fertig. Sie will Leonor dafür danken, dass sie ihn zusammengenäht hat, doch es gelingt ihr nicht, sie stößt bloß einen dieser furchtbaren Laute aus. Warum sie mal sprechen kann und mal nicht, ist ihr wirklich schleierhaft. Vielleicht befindet sie sich ja auf dem Wege der Besserung.
Vielleicht. Doch sie bekommt so schlecht Luft, und das
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