Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
Gewissen plagte. Und irgendwann begann sie, sich sogar recht nett mit Antoni zu unterhalten, und lud ihn sogar zu ihrer Hochzeit ein.
Als Leonor heiratete, rauchte Dolors noch. Sie hörte damit an dem Tag auf, als Antoni überfahren wurde.
An diesem Tag hörte überhaupt so einiges auf.
An diesem Tag starb auch sie. Und an ihrer Stelle kam eine andere zum Vorschein.
Der Pfarrer, der die Grabrede hielt, war wieder derselbe. Bestürzt stellte Dolors fest, dass sie wieder seinem anklagenden Blick ausgesetzt war, weil dieser Abgesandte Gottes sicher dachte, dass sie ein männermordender Vamp war. Vor allem, da sie am Tag von Antonis Beerdigung keine Tränen mehr hatte. Sie hatte den fürchterlichen Knall gehört und war aus der Buchhandlung auf die Straße gestürzt. Antoni war auf der Stelle tot. Neben der Liebe ihres Lebens sank sie kreideweiß zu Boden, klammerte sich an seinen noch warmen Körper, Sturzbäche liefen ihr über die Wangen, vermischten sich mit seinem Blut.
Sie fauchte jeden an, der sich ihr nähern wollte, sodass man sie schließlich mit Gewalt fortziehen musste. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie sich wimmernd, erschöpft von ihrem Wehgeschrei und all den Tränen, in ihre Wohnung führen ließ. Stundenlang stand sie dann unter der Dusche, und als sie danach, nun schreckensstumm, in den Spiegel starrte, da sah sie, dass das Wasser die satte Farbe ihres Lebens fortgespült und sie völlig empfindungslos gemacht hatte.
Während Antonis Beerdigung starrte sie auf seinen Sarg und suchte in sich nach irgendeinem Gefühl, das ihr die Tränen in die Augen treiben würde. Doch sie hatte keine Tränen mehr, in ihrem Herzen fand sie nur noch dumpfe Gleichgültigkeit, ihr Innerstes war erstarrt. Es war der pure Überlebenstrieb. Als sich der Priester am Schluss der Zeremonie von den Trauernden verabschiedete, warf er ihr einen zornig-fragenden Blick zu, den Dolors im selben Augenblick für sich übersetzte: Und wer ist der Nächste?
Es würde keinen Nächsten geben. Nie wieder. Nach Antoni gab es keine Tränen und keine Männer mehr.
Als Antoni starb, war er dreiundsechzig Jahre alt gewesen. Vor langer Zeit schon hatte er sein Testament verfasst. Die Buchhandlung vererbte er seinen Kindern, doch Dolors sollte sie leiten, bis sie die Lust daran verlor.
Ein Jahr früher als üblich beschloss Dolors, in Rente zu gehen. Die ersten Monate verbrachte sie fast ausschließlich mit dem Lesen der verbotenen Bücher, die Antoni ihr vermacht hatte. Zweimal hatte sie schon damit begonnen, einmal in Antonis Häuschen bei der Fabrik und das andere Mal in der Buchhandlung, doch jedes Mal hatte es Wichtigeres zu tun gegeben. Jetzt war Lesen das Wichtigste. Jetzt gab es keine Ablenkung mehr. Lesen und Stricken, das waren die Freuden ihrer letzten Lebensjahre.
Ach herrje, die Maus ist ihr heruntergefallen. Mit der linken Hand ist es schwierig, sie zu bedienen. Mühsam tastet Dolors nach ihrem kleinen Glöckchen und läutet.
»Was ist los, Oma? … Ach, die Maus.«
Martí hebt sie auf und verschwindet wieder. Bestimmt arbeitet er am anderen Computer. Auf einmal flimmert es Dolors vor den Augen, sodass sie das Kätzchen kaum nocherkennen kann. Fèlix, Fèlix, wo bist du? Seltsam, was heute passiert, wirklich sehr seltsam. Das Bein tut ihr weh, und plötzlich juckt sie auch wieder das Auge, dabei hat es sie schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gejuckt. Und jetzt juckt es immer mehr. So sehr, dass es richtig wehtut. Und seltsamerweise bekommt sie nur noch schwer Luft. Das ist wirklich alles sehr kurios, doch wenn sie auf etwas überhaupt nicht gefasst war, dann auf eine so große Überraschung wie die, die jetzt zur Tür hereinkommt. Träumt sie vielleicht? Sie schließt die Augen und öffnet sie gleich wieder. Nein, denn die Überraschung ist immer noch da: Antoni. Dolors hebt den Kopf, versucht, etwas zu ihm zu sagen, doch sie bringt ja nur Laute hervor. Lächelnd tritt Antoni an ihr Bett, ergreift ihre Hand und sagt, pst, streng dich nicht an. Liebend gern würde Dolors ihn fragen, wie er hierherkommt, da er doch eigentlich tot ist. Doch Antoni versteht sie wie immer, küsst sie mit seinen warmen Lippen auf den Mund und erklärt ihr dann, dass der Tote jemand anderes gewesen sei, alles sei ein Irrtum gewesen. Da reißt Dolors vor Staunen die Augen auf – und bekommt keine Luft mehr, sodass sie husten muss und die Maus erneut zu Boden fällt.
»Was ist los, Oma? Geht es dir nicht gut?«
Martí ist wieder da,
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