Die Wuensche meiner Schwestern
ihren Turnschuhen.
Meggie verdrängte die Vorstellung der Leiche ihrer Mutter aus ihrem Kopf, wie sie den Fluss hinunter bis nach Bayonne trieb, in diese Alptraumstadt, in der in Orson Welles’ Krieg der Welten die riesigen Aliens landeten. Sie erlaubte sich nicht, darüber nachzudenken, ob ihre Mutter wohl vor dem Sprung ihre Schuhe ausgezogen hatte. Wäre Meggie nicht so jung gewesen, als ihre Mutter verschwand, hätte sie als Einzige in der Familie genügend Rückgrat besessen, um zum Leichenhaus zu gehen und zu verlangen, dass man ihr den toten Körper ihrer Mutter zeigte. Nun war es zu spät. Mariah hätte ihrer Familie eine Menge Kummer ersparen können, stattdessen hatte sie sich feige verhalten. Meggie war wütend. Sie schlug die Kapuze zurück, um sich durchs Haar zu fahren; die gegelten Stacheln knisterten spröde unter ihren Fingern. »Wäre es nicht viel einfacher gewesen, wenn Mariah die Leiche identifiziert hätte? Damit es nicht so lange gedauert hätte, bis sie uns adoptieren konnte? Und um Gewissheit zu haben?«
Aubreys Atem war in weißen Wölkchen sichtbar. »Ich kann Mariah nicht vorwerfen, dass sie es nicht tun wollte. Sie dachte, Lilas Tod würde sich auf andere Weise belegen lassen.«
»Ich vermute, als ihr klar wurde, dass es keine andere Möglichkeit gab, hatten sie die Leiche schon weggeschafft«, fügte Bitty hinzu.
»Ich hätte es getan.« Meggie hob das Kinn. »Ich hätte es für euch und für mich und für Mom getan.«
»Daran habe ich keinen Zweifel«, erwiderte Bitty, und Meggie empfand ein Gefühl von Stolz und Erleichterung, mit dem sie nicht recht umgehen konnte, also schob sie es beiseite.
»Meggie – was meintest du, als du sagtest, du wüsstest mehr als wir?«, wollte Aubrey erfahren.
Meggie zögerte. Sie hatte ihre Geheimnisse schon so lange nicht mehr mit jemandem geteilt, sie wusste nicht,wie sie nun damit anfangen sollte. Doch sie zwang sich dazu. »Ich habe ein Notizbuch voller Spuren und Hinweise. Ich glaube, dass Mom an einigen der Orte gewesen ist, die ich aufgesucht habe. Irgendwann einmal.«
»Woher weißt du das?«, fragte Bitty.
Meggie erzählte ihnen von dem Foto ihrer Mutter, das sie auf ihren Reisen bei sich gehabt hatte. In ihrer Kindheit war ihre Mutter oft verschwunden, manchmal für Tage, manchmal für Wochen oder Monate. Niemand wusste, wo sie dann war, nur war Meggie klar, dass sie irgendwohin gegangen sein musste. Sie begann damit, in Lilas Zimmer nach Hinweisen zu suchen, und wurde fündig: zerknitterte Flugtickets in alten Manteltaschen, Rechnungen, zusammengeknüllt wie benutzte Taschentücher, zerrissene Landkarten, Telefonnummern mit fremden Vorwahlen, Visitenkarten, ein Werbezettel, der vermutlich irgendwann einmal unter einen Scheibenwischer geklemmt worden war.
So hatte Lila beispielsweise Spuren in Albany hinterlassen – ein Barkeeper in der Nähe des State-Museums hatte Lila vor Jahrzehnten gesehen. Er berichtete Meggie von einer Geschichte, die Lila ihm erzählt hatte, wie sie einmal volle acht Minuten auf einem mechanischen Bullen geritten war. Meggie hatte die Geschichte in ihr Notizbuch gekritzelt. Und sie schrieb dazu, was ihre Mutter angehabt hatte (der Erinnerung des Barkeepers zufolge ein bauchfreies Shirt und abgeschnittene Jeans) und was sie gern trank (Bud light). In einer Spelunke in Queens fand Meggie heraus, dass Lila einst mit einem Mann namens Clutch zusammen gewesen war, der ihr erzählte, Lila habe davon geredet, nach Kalifornien zu reisen, um sich an die Kreuzung von Haight und Ashbury Street zu stellen und zu sehen, was dort von der Hippiebewegung noch übriggeblieben war. In San Francisco angekommen, stieß Meggie an eben dieser Stelle auf ein zerschlissenesTuch aus Merinowolle, das jemand um einen Laternenpfahl gebunden hatte, und war sich absolut sicher, dass ihre Mutter dort gewesen sein musste. Nachdem sie ein Tipp nach Washington, D. C., geführt hatte, fand sie dort die Initialen ihrer Mutter – es mussten ihre sein – in der Nähe des Vietnam-Memorials in einen Baum geritzt. Die Geschichte dahinter hatte gelautet, Lila sei in die Hauptstadt gefahren, um einen Senator wegen einer Ölpipeline zusammenzustauchen.
Meggie war der Spur gefolgt, die Lila in den Jahren vor ihrem endgültigen Verschwinden hinterlassen hatte und die sich so willkürlich durchs Land schlängelte, wie ein Tornado sich durch einen Wald pflügte. Und sie hatte selbst dann noch weitergesucht, als die Spur erkaltet war, da sie ein Loch
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