Die Wuensche meiner Schwestern
Gemeinden Grundstücke für das Gemeinwohl. Vorgärten wurden verkleinert, um Straßen zu erweitern; Wohnblocks wurden niedergerissen. Tarrytowns Grundstücksdebatte war in diesem Kontext kaum eine Schlagzeile wert – sie war ganz gewöhnlicher Alltag. Selbst wenn es Tappan Watch gelänge, auf die Schnelle eine Protestkundgebung auf die Beine zu stellen, würde die Demonstration es kaum in die regionalen Nachrichten schaffen, von den landesweiten ganz zu schweigen. Tappan Watch war eine kleine Gruppe gesellschaftlicher Außenseiter, deren Missfallensäußerung kaum ins Gewicht fiele.
Der Wind frischte auf und kräuselte die Wasseroberfläche. Aubrey konnte sich nicht daran erinnern, sich je zuvor so hoffnungslos gefühlt zu haben. Wenn sie nicht so viel Angst davor gehabt hätte, im Mittelpunkt zu stehen und Entscheidungen zu treffen, wenn sie sofort Mariahs Platz eingenommen hätte, hätten die Halperns Mason Boss vielleicht gar nicht erst angeheuert. Wenn Aubrey ihren Stolz hinuntergeschluckt hätte – denn der Grund für ihre öffentliche Zurückhaltung waren letztlich nur alberner, dummer Stolz gewesen und die Angst, sich in Verlegenheit zu bringen –, hätte Tappan Watch vielleicht eine Petition, einen Protestmarsch, eine Website, eineBewegung zustande gebracht. Sie hätten zu diesem Zeitpunkt zumindest etwas vorzuweisen gehabt.
Stattdessen war Aubrey so selbstgefällig wie alle anderen gewesen und hatte sich gefreut, jemand anderen an vorderster Front zu sehen. Und nun standen sie mit leeren Händen da. Ihnen blieben lediglich ein Strohmann, der sie sabotiert hatte, und noch etwas mehr als sechzig Stunden, bis eine Gruppe Fremder entscheiden würde, dass ihre Häuser, ihr Zuhause weniger wert war als ein neues Einkaufszentrum.
Schräge Sonnenstrahlen fielen durch Lücken in der grauen Wolkendecke über der weiten Tappan Zee. Sie gestand sich ein, dass es ihre Schuld war, was sie jedoch nicht trübselig werden ließ. Im Gegenteil verhalf ihr diese Einsicht zu einer Klarheit, die so absolut war und so zielstrebig zugleich, dass ein Mensch eine solch präzise und einzigartige Entschlossenheit im Laufe seines Lebens wohl nur wenige Male verspüren konnte.
Sie würden Tappan Square verlieren, das stand fest – wenn Aubrey nicht etwas dagegen unternahm. Etwas Dramatisches, das ganz Tarrytown auf den Kopf stellte. In den vergangenen Wochen hatte die Strickerei Aubrey ihre eigene Macht deutlicher zu erkennen gegeben. Ihre Fähigkeit, in rasender Geschwindigkeit einen starken Zauber zu stricken, die sie an dem Abend, als Craig vor der Strickerei aufgetaucht war, unter Beweis gestellt hatte, hatte ihr selbst den Atem geraubt – auch wenn der Erfolg des Zaubers einen hohen körperlichen Preis gehabt hatte. Sie hatte etwas Großes in sich freigesetzt, und ihre Magie kannte nur dort Grenzen, wo sie selbst ihr welche setzte.
Sie wusste, wozu sie imstande war. Sie konnte Zauber stricken, die größer waren als die alltäglichen Wünsche eines Einzelnen. Zauber, die das Leben und eine ganze Stadt verändern konnten. Sie spürte ein Leuchten inihrem Inneren, das so stark war, dass sie sich fragte, ob die Familien auf dem Spielplatz hinter ihr es durch ihren Mantel, ihren Pullover und ihre Haut hindurch sehen konnten.
Und doch …
Und doch …
Sie legte sich die Hände auf die Augen. Wie sollte eine Person es, allein rein logistisch, anstellen, einen Zauber nicht nur für einen Menschen, sondern für eine ganze Stadt zu stricken?
Und darüber hinaus: Was konnte sie von sich geben, das als Opfer ausreichen würde, um den Zauber wirksam zu machen? Welcher Verlust würde ihr so weh tun wie der Verlust der Strickerei, ihrer Nachbarn, ihrer Lebensaufgabe, ihrer langen Familientradition in Tarrytown? Gab es irgendetwas, das sie so sehr liebte und für sich selbst haben wollte, wie sie all diese Dinge bewahren wollte?
Das Herz in ihrer Brust, das eben noch so heftig geschlagen hatte, geriet ins Stottern.
O Gott, dachte sie.
Sie ließ die Hände sinken. Über die Zukunft, die sich soeben noch wie ein sonnenbeschienener Pfad vor ihr ausgebreitet hatte, legte sich ein dunkler Schatten.
* * *
Sie stand zitternd vor Vics Tür. Sie hatte erwartet und auch gehofft, dass er nicht zu Hause sein würde. Aber sie vernahm ein lautes Geräusch, ein schrilles mechanisches Klagelied, das aus seinem kleinen Garten drang. Und als sie durch den schmalen Weg in den unaufgeräumten kleinen Hof hinter seinem Haus trat, konnte sie sehen,
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