Die Wuensche meiner Schwestern
der Stand der Dinge sei. Genau das hat sie geschrieben. Aubrey –«
»Sag es nicht«, unterbrach diese sie. »Ich weiß es schon. Ich hätte es die ganze Zeit wissen müssen.«
Sie schüttelte den Kopf, wütend auf sich selbst. Mason Boss – selbstverständlich war er ein Spitzel der Halperns. Es hatte so viele Zeichen gegeben, die ihr hätten auffallen müssen, hätte sie klar denken können, und sich mehr auf Tappan Square konzentriert. Wie einfach es doch gewesen war, nur das zu sehen, was sie sehen wollte, sich selbsteine Ausrede zu liefern, um jemand anderen die Verantwortung übernehmen zu lassen.
»Wann hast du das alles herausgefunden?«, fragte sie.
»Gestern Nacht.«
»Und was hast du zu ihm gesagt?«
»Oh, ich habe ihn ordentlich zur Sau gemacht. Ich habe ihn direkt gefragt, ob er für die Halperns arbeitet. Und er hat es nicht geleugnet. Er meinte nur immer wieder, es sei kompliziert.«
»Er weiß also, dass du es weißt.«
»Ja.«
»Dann weiß er wahrscheinlich auch, dass ich es weiß. Dass es nicht lange dauern wird, bis wir alle es wissen.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er mittlerweile die Stadt verlassen hat«, meinte Jeanette.
Aubrey stand auf und begann auf dem grauen Teppich auf und ab zu laufen. Morgen war Devil’s Night. Am Tag darauf war Halloween, und ganz Tarrytown hätte andere Dinge im Kopf als Politik. Und am Tag danach, am frühen Montagmorgen, würden die Halperns über Tappan Square abstimmen lassen.
Aubrey ging zur Tür.
»Wo willst du hin?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie.
* * *
Sie verließ Jeanettes Wohnung, und da sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, ging sie zum Leuchtturm, um aufs Wasser zu sehen und nachzudenken. Sie hatte ihr Strickzeug dabei und setzte sich auf die Stützmauer nahe Kidd’s Rock, jenem riesigen grauen Felsen am Ufer, wo der alte Sklavenhändler Frederick Philipse sich einst angeblich heimlich mit dem berühmtesten Piraten des Hudson traf. Die Luft fühlte sich leicht auf ihrer Haut an, es wehte einsanfter Wind, der die Wellen tänzeln ließ. Auf dem Spielplatz hinter ihr rutschten und kletterten Kinder.
Seit die Familie Van Ripper zum ersten Mal den Fuß auf das Stück Erde in Tarrytown gesetzt hatte, das ihr Eigentum werden sollte, hatte die Strickerei immer wieder harte Zeiten durchlebt. Im frühen neunzehnten Jahrhundert hatte ein wütender Mob die Strickerei angegriffen, um die »Van-Ripper-Hexen« aus der Stadt zu jagen. In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatte jemand versucht, das alte Haus in Brand zu setzen. Als die Weltwirtschaftskrise Tarrytown erreichte, ging den Van Rippers das Geld aus, und die Familie verlor das Haus beinahe, weil sie ihre Steuern nicht mehr zahlen konnte. Aubrey war nicht die erste Hüterin, der die Aufgabe zufiel, die Strickerei zu retten. Aber soweit sie wusste, war sie die erste, die nicht nur die Strickerei, sondern gleich ganz Tappan Square retten sollte.
Sie blickte auf die Wolle in ihren Händen: In einem Anflug von Mut und Hoffnung hatte sie vor zwei Tagen begonnen, etwas für Vic zu stricken – zur Hölle mit dem Beziehungsfluch. Sie hatte eine graubraune gerippte Mütze entworfen, die dick und robust war und perfekt zu seinen Augen passen würde. Sie wollte für ihn stricken, damit etwas, das sie geschaffen hatte, seinem Körper nah war und ihn an kalten Tagen wärmte. Und sie wollte ihm damit sagen, dass sie ihn liebte, auch wenn sie befürchtete, dass es noch zu früh war, um die Worte laut auszusprechen.
Doch sosehr sie auch versuchte, den Rhythmus der Maschen aufzunehmen, konnte sie doch nicht weiter daran arbeiten. Die Nadeln in ihren Fingern ruhten. Der Wind wehte ihr eine Haarsträhne vors Gesicht.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Noch kannte außer Aubrey niemand in Tappan Square die Wahrheit: Sie waren betrogen worden – besser gesagt, sie hatten zugelassen,dass man sie betrog, was nicht ganz dasselbe war. Die Gefahr, Tappan Square zu verlieren, war niemals so real gewesen wie in diesem Augenblick. Irgendjemand musste aufstehen und die Verantwortung übernehmen.
Doch Aubrey konnte keinen Protest anführen. Sie wusste beim besten Willen nicht, wie man einen Aufstand anzettelte. Und je länger sie darüber nachdachte, desto unsicherer war sie, ob eine Protestkundgebung allein den Gemeinderat dazu bringen würde, gegen die Horseman Woods Commons zu stimmen – vor allem zu einem so späten Zeitpunkt. Im ganzen Land beschlagnahmten Städte und
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