Die Wuensche meiner Schwestern
dass er da war. Er trug eine an manchen Stellen durchgescheuerte Jeans, hatte die Ärmel hochgekrempelt und eine durchsichtige Sicherheitsbrille aufgesetzt. Mit einerlauten Kreissäge durchtrennte er gerade ein langes Stück Holz, wobei ihm die Späne auf die Füße fielen. Ihn zu rufen war sinnlos, weil er sie nicht hören konnte, also wartete sie darauf, dass er fertig wurde, und war sich währenddessen seiner starken Schultern, seiner sicheren Bewegungen und tiefen Konzentration auf seine Arbeit viel zu bewusst.
Sie wünschte sich, er wäre weniger attraktiv, leidenschaftlich und liebenswürdig. Sie wünschte sich, sie wären schon vor Wochen getrennte Wege gegangen, direkt nach dem Vorfall bei dem Footballspiel, denn dann läge ihr das Herz nun womöglich nicht so schwer in der Brust, und sie würde sich bei ihrem Versuch, das Richtige zu tun, nicht so furchtbar schlecht fühlen.
Ihr traten Tränen in die Augen, und sie zwang sich zu Entschlossenheit. Doch ihr Hirn spielte ihr Streiche, ein imaginärer Teufel flüsterte ihr ins Ohr: Du musst das nicht tun. Es muss noch einen anderen Weg geben. Du kannst etwas anderes aufgeben. Du kannst versuchen, es ohne Zauber zu schaffen. Du kannst abwarten und sehen, was ohne deine Einmischung geschieht, denn vielleicht geht ja doch alles gut. Du kannst es einfach vergessen, dann sollen sich eben alle anderen in Tappan Square Sorgen machen. Warum solltest du dein Glück für eine Nachbarschaft opfern, in der die Hälfte der Leute dich nicht mag und nie zu schätzen wissen wird, was du für sie getan hast?
Sie zwang die Stimme in ihrem Kopf, Ruhe zu geben. Es war richtig, dass es noch andere Möglichkeiten gab, um Tappan Square zu retten. Aber nur die Magie der Strickerei kam einer Garantie nahe. Und sie wusste, dass ihr Zauber zur Rettung der Nachbarschaft wirksam sein würde. Er musste es sein. Ein Opfer, das so groß war wie jenes, was sie erbringen würde, musste einfach einen starken Zauber zur Folge haben.
Sie sah zu, wie Vic die Säge ausschaltete und sich die Brille auf die Stirn schob. Ihr Bauch rebellierte, und sie hatte Angst, sich übergeben zu müssen. Wie sollte sie es nur hinter sich bringen?
»Hey! Schau an, wer da ist!« Er klopfte sich die Hose ab und ging auf sie zu. Ihr sank das Herz. Seine Augen leuchteten, und sein Mund, der in der letzten Woche solch eine Offenbarung für sie geworden war, breitete sich zu einem Lächeln aus. Wenn irgendjemand anderes vorgehabt hätte, ihm so sehr weh zu tun wie sie selbst in diesem Moment, hätte sie ihm laut zugerufen: Renn weg!
»Was machst du denn hier?«, fragte er, wartete ihre Antwort jedoch nicht ab. Er trat einen Schritt vor und küsste sie mitten im Freien, wo all seine Nachbarn es sehen konnten. Als er sich wieder zurückziehen wollte, hielt sie ihn fest. Sie küsste ihn lang und intensiv. Sie schlang ihm die Arme um den Hals und ließ ihn nicht mehr los. Sie presste ihren Körper so eng wie möglich an seinen, spürte seine lebhafte Reaktion. Vic wich erst zurück, als er mit der Handfläche ihre Wange berührte; er musste ihre Tränen gespürt haben. Er blickte sie fragend an. »Hey. Was hast du? Was ist denn los?«
Sie lehnte die Stirn für einen Moment gegen sein Schlüsselbein und löste sich dann mühevoll von ihm. »Können wir ins Haus gehen?«, hörte sie sich sagen.
»Was ist los? Aubrey, ist alles in Ordnung?«
»Lass … lass uns einfach reingehen, da sind wir ungestört.«
Er nickte ernst, dann gingen sie die paar Schritte, die in seine Küche führten. Er bot ihr nichts zu trinken und auch keinen Stuhl an. »Was ist passiert?«
Sie blickte zur Decke hinauf. Wo sollte sie anfangen? Sollte sie ihm erzählen, dass die Strickerei der Grund dafür war, ihn aufzugeben, weil sie die Möglichkeit sah, Tarrytown auf eine Weise zu helfen, die größer und wichtigerals ihr Zusammensein war? Oder würde die Wahrheit – zu wissen, dass sie ihn als Opfer gewählt hatte – die Sache für ihn noch schlimmer machen?
»Hier.« Vic zog einen Stuhl an den kleinen Küchentisch. »Setz dich.«
Sie folgte seiner Aufforderung und hielt die Hände auf dem Schoß gefaltet. Wenn sie ihm erklärte, dass sie ihn für ein übergeordnetes Wohl aufgab, würde es seinem Herzen vielleicht keinen ganz so großen Stich versetzen, weil er dann wusste, dass sie ihn nicht abwies. Doch ihr war auch klar, dass sie kurz davor stand, ins Schwanken zu geraten. Wenn sie ihm die Wahrheit sagte, würde er versuchen, sie davon
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