Die Wuensche meiner Schwestern
frites. Die Straße, in der sie lag, fiel nach einer scharfen Linkskurve zum Fluss hin ab und bot einen atemberaubenden Ausblick über ihn, wie er in der Stadt jedoch keine Seltenheit war. Das andere Ende der Straße wurde von einer alten Eisenuhr markiert, deren kunstvoll gearbeitete schwarze Zeiger auf römische Ziffern wiesen. Um den schwarzen Fuß der Uhr herum waren Kürbisse, Heuballen und getrocknete Getreidebündel drapiert worden.
Nachdem Jeanette nicht an ihr Handy gegangen war, schaute Aubrey spontan bei ihr vorbei. Sie stand vor der schäbigen Holztür und wartete darauf, dass Jeanette ihr öffnete. Ihr kam der Gedanke, dass Mason Boss gerade in diesem Augenblick bei ihrer Freundin sein konnte, dass sie womöglich ungelegen kam, was ihr zwar unangenehm, aber gleichzeitig auch von Vorteil wäre. Doch als Jeanette endlich die vielen Schlösser ihrer Wohnungstür aufschloss und hinausspähte, schien sie allein zu sein.
»Wo hast du gesteckt?«, fragte Aubrey. »Ich habe seit Tagen nichts von dir gehört.«
Jeanettes sonst so fröhliches Gesicht hellte sich nicht auf. Aubrey erkannte, dass das Glitzern in den Augen ihrer Freundin keinesfalls Freudentränen ob ihres Besuches waren.
»Jeanette …«
»Ach, Aub!« Jeanette zog Aubrey hinein in die Wohnung und machte die Tür hinter ihnen zu. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. »Ach, Aub. Ich wollte dich anrufen. Gut, dass du da bist.«
Aubrey betrat Jeanettes kleines Esszimmer. Aus dem Fenster konnte sie in die Wohnungen auf der anderen Straßenseite sehen. Aubrey setzte sich auf den Plastikstuhl, auf dem sie immer saß. Sie und Jeanette hatten im Laufe derJahre schon viele Trennungen durchgemacht, nach denen Jeanette jeweils empört oder niedergeschlagen, verwirrt oder erleichtert war, und Aubrey hatte jedes Mal zugehört und genickt und so getan, als könnte sie ihr irgendwelche weisen Beziehungsratschläge geben, obwohl sie selbst noch nie eine richtige Beziehung gehabt hatte.
»Erzähl mir, was passiert ist«, forderte Aubrey sie auf.
»Der Typ hat sich als Versager herausgestellt. Als absoluter Versager.«
Aubrey nickte mitfühlend. Jeanette mochte zwar alle paar Monate eine Trennung durchleben, doch das schmälerte ihren Schmerz nicht.
»Hat er eine Freundin? Ist er verheiratet?«, fragte Aubrey.
»Schlimmer. Das habe ich gefunden, als ich ihn gegoogelt habe.« Jeanette ging zu ihrem Sofa und holte ihren Laptop. Sie stellte ihn auf den Esstisch. Der Computer war alt und langsam, und sie mussten warten, bis er die Seite geladen hatte. »Ich wollte ihn mir mal genauer anschauen, verstehst du? Sehen, worauf ich mich einlasse.«
»Nachdem du dich längst auf ihn eingelassen hattest«, stellte Aubrey fest.
»Natürlich.« Sie drehte den Bildschirm weiter in Aubreys Richtung. »Hier.«
Aubrey betrachtete das Video. Darin steppte ein Mann mit einem Stock mit weißer Spitze in der Hand und sang dabei ein Lied über Turteltauben.
»Das ist vielleicht albern, aber doch nichts Schlimmes«, meinte Aubrey.
»Es ist total schlimm«, entgegnete Jeanette. Sie stellte den Lautsprecher aus. »Wusstest du, dass Mason Boss nicht sein richtiger Name ist?«
»Nein?«
»Er heißt Richard Mumford, und er ist ein arbeitsloser Schauspieler.«
»Sind nicht alle Schauspieler arbeitslos?«
»Aubrey.« Jeanette klappte ihren Laptop zu. »Versteh doch. Er ist Schauspieler.«
»Und?«
Jeanette seufzte. Erneut traten ihr Tränen in die Augen. Sie trug ein kastenförmiges graues Sweatshirt mit dem Bild eines Katzenbabys und einem undefinierbaren Fleck darauf und sah furchtbar aus. »Ich wurde misstrauisch, als ich herausfand, dass er mir nicht seinen echten Namen genannt hatte. Dann waren wir in seiner Wohnung in Tappan Square – die übrigens gar keine richtige Wohnung ist. Nur ein Zimmer bei irgendeinem Typen. Sein Kleiderschrank war leer, und an den Wänden hingen überhaupt keine Bilder oder irgendetwas Persönliches. Ich habe ihn gefragt, was das zu bedeuten hat, und er erklärte mir, er reise mit leichtem Gepäck.«
Die düstere Ahnung, die in Aubreys Kopf aufgezogen war, nahm langsam klarere Züge an. »Erzähl mir alles.«
»Ich habe einen Blick in sein Handy geworfen, als er unter der Dusche war. Sieh mich nicht so an. Wenn er nicht wollte, dass ich in seinem Telefon schnüffle, hätte er es nicht offen liegenlassen sollen. Jedenfalls habe ich eine Textnachricht gefunden. Von Jackie Halpern.«
»Was stand darin?«
»Sie schrieb, sie wolle nur hören, wie
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