Die Wuensche meiner Schwestern
eine Woche vor seinem Tod auf einem Straßenmarkt gekauft. An Allerheiligen vor einem Jahr.« Ruths Augen wurden feucht, und einen Moment lang befand sie sich nicht länger in der Strickerei – das konnte Aubrey erkennen. Sie stand an einem warmen Oktobertag auf dem Bürgersteig neben ihrem noch lebenden Gatten, der dem Mann hinter dem Klapptisch das Geld überreichte und die Brosche mit einem Lächeln an Ruths Revers befestigte.
Die Regeln darüber, was geopfert werden konnte und was nicht, waren in mancherlei Hinsicht verwirrend. Andenken hatten einen emotionalen Wert, und es war generell akzeptiert, dass bedeutungsvolle Objekte dieser Art als wirkliche Opfer galten und im Turm der Strickerei zubleiben hatten, solange es diese gab. Geld wurde nur in den seltensten Fällen als bedeutsames Opfer angesehen, denn es konnte immer ersetzt werden. Die Hüterin durfte ihren Kunden nicht vorschlagen, für einen Zauber mit Geld zu bezahlen, doch sie konnte es annehmen, wenn es ihr als persönliches – nicht als magisches – Geschenk angeboten wurde. Diese Gebt-dem-Kaiser- Sichtweise auf Opfergaben tauchte in den Dreißigern zum ersten Mal im »Großen Buch« auf, als die Hüterinnen offensichtlich ein wenig Bargeld für ihren Lebensunterhalt benötigten und herausfanden, dass ihre Zauber nicht darunter litten, wenn sie die Scheine ihrer Kunden behielten – solange auch ein wirkliches Opfer erbracht worden war.
Aubrey nahm all ihren Mut zusammen. »Okay. Zweihundert Dollar.«
Ruth kramte in ihrer Handtasche.
»Und ich … herrje. Ich werde auch die Brosche benötigen.«
Ruth lachte ungläubig. Sie blickte sich um, als erwartete sie, dass sie beobachtet würden. »Was? Wirklich?«
Aubrey nickte.
»Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Tut mir leid, aber so ist es.«
»Aber … aber sie war ein Geschenk. Für mich. Von meinem Mann. Er hat dafür höchstens zwanzig Dollar bezahlt!«
»Trotzdem.« Aubrey blieb hart. »Wenn Sie wollen, dass der Zauber wirkt …«
Ruth runzelte nun mit panischem Blick die Stirn. Ihre behandschuhten Finger verkrampften sich um den Henkel ihrer Lederhandtasche. »Tausend Dollar. Das ist mein letztes Angebot. Und die Brosche behalte ich.«
Aubrey wünschte, sie könnte ja sagen. Sie brauchte das Geld dringender als Ruths billige Brosche. Dennoch begann sie, sich von ihr abzuwenden.
»Warten Sie!«
Sie blieb stehen.
Ruth hielt ihrem Blick kurz stand, was unangenehm sein musste. Dann entfernte sie langsam, mit zitternden Fingern die Brosche von ihrem Revers. Sie streckte sie weit genug vor sich, um sie ohne die Brille betrachten zu können, die ihr um den Hals hing, und strich mit dem Daumen über die Vorderseite. Aubrey konnte die Fragen in Ruths Kopf geradezu spüren: War der Platz ihrer Familie in der Gemeinde dieses Opfer wert? Würde ihr Mann wütend sein, wenn er irgendwie in seinem Grab davon erführe? Konnte sie den Verlust der Brosche ertragen – die wahrscheinlich das letzte Geschenk war, das er ihr vor seinem Tod gemacht hatte?
Aubrey empfand Mitleid mit ihr. Sie selbst kannte nur zu gut den Wert und den Schmerz von Traditionen. Von einem Platz in der Gemeinde, der persönliche Wünsche übertrumpfte.
»Ich schätze, wenn es keine andere Möglichkeit gibt …« Ruth legte die Brosche behutsam auf die Ladentheke. Einen Augenblick später zählte Aubrey bereits Fünfzigdollarnoten.
»George würde es gutheißen«, murmelte Ruth vor sich hin. »Es ist eine Familientradition. Jede Familie hat ihre Traditionen.«
»Unsere ganz bestimmt«, sagte Meggie.
Aubrey zuckte zusammen – erschrocken von dem Gefühl, dass sie dabei beobachtet worden war, wie sie etwas Falsches getan hatte. Sie blickte von den Geldscheinen auf. Ihre Schwester stand in einer blaugrünen Pyjamahose gegen den Türrahmen gelehnt, hatte die Arme verschränkt und eine Schulter hochgezogen. Aubrey hatte keine Ahnung, wie lange Meggie schon zugesehen hatte.
»Oh, wie nett«, sagte Ruth ausdruckslos. »Margaret. Sie sind wieder da.«
»Ganz wie in den guten alten Zeiten«, erwiderte Meggie.
Aubrey berührte Ruth am Arm. Sie musste ihre Aufmerksamkeit von Meggie ablenken, die vor vielen Jahren einmal ihren nackten Hintern gegen das Fenster eines Innenstadtcafés gepresst hatte, in dem Ruth und ihr Ehemann saßen. »Mrs. Ten Eckye …«, sagte Aubrey laut. »Ich denke, was Sie brauchen, ist ein hübsches Paar fingerlose Handschuhe. Ein Geschenk für Mr. Scott, das er an kühlen Herbsttagen tragen kann. Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher