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Die Wuensche meiner Schwestern

Die Wuensche meiner Schwestern

Titel: Die Wuensche meiner Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa van Allen
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verdient. Wenn ihre Mutter ihr einen bestimmten Film verbot, dann sah sie ihn sich zwar trotzdem an, hielt sich aber bei Gewalt- oder Sexszenen die Augen zu. Manchmal wünschte sie sich, etwas richtig Schlimmes zu tun – obwohl sie keine genaue Vorstellung davon hatte, was für schlimme Dinge sie tun konnte. Und obwohl ihr gleichzeitig klar war, dass sie diese niemals tatsächlich tun würde. Sie hatte die ganze Zeit, ob ihre Mutter nun da war oder nicht, das Gefühl, in einer Zwangsjacke zu stecken.
    In Mariahs Zimmer besserte sich ihre Laune kurzfristig. Es war so seltsam: halb Schlafzimmer, halb Museum. In Mariahs Bücherregal standen Gedichtbände neben riesigen Wälzern mit Bildern von Monet und van Gogh und vergilbten Liebesromanen. Sie fuhr mit den Fingern über die alten, merkwürdigen Bücher und wünschte sich, sie hätte ihre Großtante besser gekannt.
    Die Langeweile und das Gefühl von Rastlosigkeit kehrten zurück, und sie schloss seufzend Mariahs Schlafzimmertür hinter sich. Sie blickte aus dem Fenster im Flur in die Dunkelheit hinaus. Statt der Fassade des Nachbarhauses mit den fest zugezogenen Vorhängen wäre ihr ein idyllischer, mondbeschienener Abhang mit einem Flussin der Ferne passender erschienen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl gerade aussehen mochte – wie eine hinter Burgmauern gefangene Jungfer? –, als sie ein Geräusch vernahm. Ein seltsames, gespenstisches Geräusch, ein Zischen und Knallen, ein andauerndes Dampfen. Es war so leise, dass sie es kaum hören konnte, aber es war definitiv da. Ihr Hirn suchte nach Erklärungen: Jemand hatte einen Fernseher angelassen, das Kabel hatte sich gelöst, und nur noch das Rauschen war zu vernehmen. Oder jemand hatte einen Topf auf dem Herd stehengelassen, und nun hörte man das blecherne Klirren vom letzten Rest des kochenden Wassers. Es schien aus der Ferne zu kommen und war eine Mischung aus einem dämonischen Flüstern und dem Knistern und Rascheln einer Schüssel Cornflakes. Kein irdisches Ding machte so ein Geräusch. Nichts Menschliches.
    Ihr wurde eiskalt ums Herz, und ihr stellten sich die Nackenhaare auf. Sie war vor Angst wie gelähmt. Was es auch sein mochte, es befand sich im Erdgeschoss. Nessa musste eine Entscheidung treffen: Wohin sollte sie gehen? Dem Geräusch entgegen? Oder davon weg?
    Sie schluckte. Ihre Hände kribbelten. Langsam, so langsam sie konnte, trat sie auf die erste Stufe der langen Treppe. Sie verlagerte ihr Gewicht Stück für Stück nach vorn, um das Knarren der Treppe abzuschwächen. Wenn es ein Geist war, wollte sie ihn nicht verschrecken. Sie wollte unbedingt mit ihrem Handy ein Bild von ihm machen, das sie ihren Freunden zeigen konnte. Schritt für Schritt bewegte sie sich die Treppe hinunter. Die Nachtluft war eigenartig – ungewöhnlich feucht für den Herbst. Draußen war es stockfinster, wie sie durch die quadratischen Fenster neben der holzverkleideten Tür sehen konnte. Nebel hatte sich über die Stadt gelegt, der so scheußlich dicht war, dass es schien, als drückte er seine Nase an den Fenstern platt, um hineinzuschauen.
    Ihr Fuß fand das Ende der Treppe. Das Geräusch kam aus der Strickstube. Das Flüstern war nun lauter, wie das Knistern eines matten Feuers. Sie zückte ihr Handy in seiner strassbesetzten rosa Hülle und drückte die Taste für eine Videoaufnahme. Dann trat sie mit demselben Ansturm von Heldenmut, der ihr letzten Sommer dabei geholfen hatte, zum ersten Mal vom höchsten Brett im Freibad zu springen, so weit vor, bis sie in die Strickstube spähen konnte, die von Dunkelheit und Geflüster erfüllt war. Schrecklichem Geflüster. Dem Geflüster der Toten. Sie konnte im Dunkeln nichts erkennen, bis sie über die Türschwelle getreten war. Dann brauchten ihre Augen einen Moment, um es wahrzunehmen, und ihr Hirn noch einen Moment länger, um es zu begreifen.
    Der Nebel befand sich im Haus, hatte sich auf die Wolle in den Körben und Fässern und Kisten gelegt wie ein Dämon, der mit sehnigen Armen über seinen Schatz wachte. Und das Geflüster – die Wolle selbst schien zu flüstern. Kleine Konsonanten, Ts, Ks, Ps, knallten leise. Nessa streckte eine Hand aus, um sich am Türrahmen festzuhalten, verfehlte ihn jedoch und kippte beinahe um.
    Ein Geräusch hinter ihr ließ sie aufschreien.
    »Was tust du hier?«, fragte ihre Mutter.
    »O Gott!« Nessa wirbelte herum. Ihre Mutter stand im Flur, ins grelle Licht der nackten Glühbirnen an der Decke getaucht. Sie trug einen

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