Die Wuensche meiner Schwestern
in jüngster Zeit versucht hat, mit einer Kampagne die Neubelebung von Tarrytownsam übelsten heruntergekommenem Stadtteil zu verhindern. Außerdem war sie für ihre Liebe zum Stricken bekannt. Van Ripper hinterlässt drei rechtmäßig adoptierte Nichten sowie eine Großnichte und einen -neffen. Eine formelle Bestattung ist nicht geplant. Anwohner sind jedoch eingeladen, sich am Montag um 16 Uhr im Kingsland Point Park in Tarrytown zu versammeln, um bei einem Picknick Mariah Van Rippers Beitrag zur Gemeinde zu gedenken. Die Polizei wird vor Ort sein.
* * *
Der Abend brach an, und Nessa war unruhig. Carson hatte sie allein gelassen, um in seinem Insektenbuch herumzublättern (er wollte es auswendig lernen, um damit seine blöden Freunde zu beeindrucken, und war schon bis zu Latrodectus mactans gekommen – wobei Nessa nicht verstand, weshalb er nicht einfach wie jeder andere Schwarze Witwe dazu sagen konnte). Aubrey hatte sich zum Stricken in ihr Zimmer zurückgezogen. Meggie war nach draußen gegangen, und als Nessa durchs Wohnzimmerfenster gespäht hatte, sah sie, wie ihre Tante – die so aussah, als könnte sie noch mit Leuten von der Highschool herumhängen – mit irgendeinem Typen redete. Ihre Mutter sprach am Telefon im Flur mit ihrem Vater, und Nessa hatte genug gehört, um zu wissen, dass sie für den Rest des Abends so gutgelaunt sein würde wie ein hungriger Alligator. Es hatte in etwa so geklungen: Natürlich wollte ich, dass du zur Beerdigung kommst. Warum sollte ich nicht gewollt haben, dass du zur Beerdigung kommst? … Schön – na schön. Dann komm eben nicht.
Also war Nessa allein. Sie fühlte sich wie eine in eine Burg gesperrte Prinzessin, nur dass niemand zu bemerken oder sich dafür zu interessieren schien, was sie tat, und wenn sie morgen ausbräche, würde es sicher drei Tage dauern, bis den anderen ihr Verschwinden auffiele. Sielag auf Mariahs Bett, und ihr Herz war so schwer wie ein Stein auf dem Grund eines kalten Sees. So fühlte es sich also an, auf dem Bett einer Toten zu liegen.
Sie betrachtete das Bild in dem mit Früchten, Ornamenten und kitschigen Girlanden verzierten Goldrahmen, das sie auf Mariahs Frisierkommode gefunden hatte. Das Foto war vor langer Zeit aufgenommen worden, das erkannte Nessa an dem lustig bunten Neunzigerjahre-Blouson, den ihre Mutter darauf trug. Die drei Mädchen standen mit Mariah auf riesigen flachen Steinen am Ufer des Flusses, der an dieser Stelle so breit war, dass er eher wie eine Bucht oder ein See aussah. Das Bild war in die Sonne hinein fotografiert und so überbelichtet, dass die Gesichter mit einem unnatürlichen Leuchten hervorstachen. Alle schienen glücklich zu sein: Aubrey zeigte lächelnd ihre Zahnspange und hatte die Arme um ihre Schwestern gelegt, wobei ihre Schultern so mager waren, dass ihre Brust sich nach innen zu wölben schien. Meggie war ein kleines Kind in rosa Rüschen und neigte den Kopf mit einem fast schon lächerlichen Grinsen zur Seite. Bitty, die etwa fünfzehn sein musste, war dem Anschein nach die Einzige, die auf ihre Pose und ein hübsches Lächeln achtete, um glücklich auszusehen statt einfach nur glücklich zu sein. Und Mariah – das musste Mariah sein – war eine korpulente Frau mit einem breiten, freundlichen Gesicht, die einen Schlapphut trug und eine Art Wollknäuel in der Hand hielt.
Nessa legte das Bild frustriert fort, da es ihr auch keine Antworten lieferte. Nie bekam sie Antworten. Warum waren sich ihre Mutter und ihre Schwestern so lange aus dem Weg gegangen? Soweit Nessa es beurteilen konnte, gehörte man entweder zu einer Familie oder eben nicht. Halb dazugehören war geschwindelt, was die Situation für alle Beteiligten nur schlimmer machte. So gehörte ihr Vater schon seit Jahren nur halb zu ihrer Mutter.
Sie stand auf und drehte eine Runde im Zimmer. Ihre Freunde aus der Schule – mit denen sie im Baumhaus gespielt und die sie die Rutsche hinaufgejagt hatte – waren dabei, sich zu verändern. Ihre Freundin Rachelle hatte letzte Woche eine Zigarette geraucht. Ihre Freunde Eric und Tammy hatten rumgemacht und alle dabei zugucken lassen. Mit Marcus McKerrick hatte sie zwar nichts zu tun, aber sie hatte gehört, dass er für das Klauen einer Zeitschrift Ärger bekommen hatte.
Nessa dagegen war ein braves Kind – vielleicht nicht ganz so brav wie ihr Bruder, aber immer noch brav genug. Ihre Noten waren ganz ordentlich. Sie gab ihren Lehrern keine frechen Antworten, außer diese hatten es wirklich
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