Die Wuensche meiner Schwestern
Niemand in der Familie wusste, was Meggie in den letzten vier Jahren wirklich getan hatte.
Aubrey nahm all ihren Mut zusammen und atmete tiefdie kalte Flussluft ein. Sie musste ihren Schwestern zustimmen – zumindest in einem Punkt. Mariah wollte die Ewigkeit nicht als Nippes auf dem Kaminsims der Strickerei verbringen. »Okay«, sagte Aubrey. »Du hast recht.«
»Wirklich?«, fragte Meggie.
»Mariah würde der Gedanke nicht gefallen, als menschliche Kamindeko zu enden.«
»Aber den Fluss mochte sie immer«, sagte Bitty.
Aubrey zog die Füße aus dem Wasser und stellte sich auf einen glatten Felsbrocken. Wenn sie Mariah gehen lassen musste, dann würde sie es wenigstens mit ihren Schwestern an ihrer Seite tun. Sie trat langsam von einem Stein auf den anderen, soweit der felsige Küstenstreifen sie gehen ließ. Ihre Schwestern folgten ihr.
Aubrey öffnete den Deckel. Irgendwo in der Dunkelheit des Flusses sprang ein Fisch in die Luft und fiel leise platschend zurück ins Wasser. Sie spürte, wie etwas zwischen ihnen war, eine Energie, wie Strom, der durch ein Kabel fließt. Aubrey wusste, dass das, was ihnen jetzt bevorstand, raue Gewässer waren: Sie würden sich über die Strickerei streiten. Sich Vorwürfe machen. Sich vielleicht gegenseitig Schuld zuweisen. Und wenn ihre Schwestern dann in ihr altes, normales Leben zurückkehrten, Gott stehe ihr bei, würde sich die unvermeidliche Einsamkeit über Aubreys Dasein legen.
Doch jetzt, für diesen Moment, war all das aufgeschoben. Sie hätte schwören können – erwähnte es jedoch nicht –, dass die alte, tote Glühbirne oben im Leuchtturm, die schon vor Jahrzehnten ausgegangen war, nun ein schwaches gelbgrünes Licht abgab, wie ein Glühwürmchen kurz vor seinem Tod.
»Bereit?«, fragte Aubrey.
Ihre Schwestern gaben keine Antwort. Meggie ließ ihre Hand los. Aubrey hockte sich hin. Sanfte Wellen liebkosten die Felsen. Eine Sternschnuppe durchstreifte dendunklen Himmel. Der erste Frost kündigte sich an – sie spürte es an der Kälte und konnte beinah seinen Schimmer über die Wasseroberfläche ziehen sehen. Sie drehte die Urne um, die in ihren Händen nach und nach leichter wurde. Mariah war fort.
Aus dem Großen Buch im Flur
Die rechte Masche hat etwas Vollkommenes an sich: Der sichelförmige Schwung beim kontinentaleuropäischen Stricken, der lassoartige Sturz beim englischen. Die rechte Masche wirkt durch ihren klaren Anfang und ihr klares Ende befriedigend, zugleich hängt sie jedoch davon ab, was vor und nach ihr kommt, und stellt das Gleichgewicht dazwischen her. Stricken beruhigt, weil es ins Gleichgewicht bringt.
Buddhisten haben ihre Mantras und Mandalas. Nonnen haben ihre Gebetsperlen. Die amerikanischen Ureinwohner haben ihre Trommelschläge. Wiederholung schafft Platz für das Unendliche. Unsere Maschen sind systematisch geknotete liegende Achten, Zeichen der Unendlichkeit – sie öffnen den Geist.
Kapitel 9
Heb eine Masche ab, Faden vorn
Tarrytown Gazette: Polizeireport
Die Polizei reagierte auf den Anruf einer Frau, die behauptete, auf der Castle Heights Avenue eine riesige gelbe Schlange in einer Baumkrone entdeckt zu haben. Das Tier war zwei Tage zuvor von seinem Besitzer, der eine Genehmigung für die Haltung besaß, als vermisst gemeldet worden. Es wurde ihm ohne Zwischenfälle übergeben.
Der Besitzer des El Palacio, eines beliebten Treffs in Tappan Square, ist wegen Ruhestörung durch übermäßig laute Musik vorgeladen worden. Er hatte in den vergangenen Wochen bereits eine Verwarnung erhalten.
Auf der Storm Street ist in drei Autos eingebrochen worden. Navigationssysteme wurden gestohlen. Die Besitzer räumten ein, sie hätten möglicherweise die Türen offengelassen.
In Tappan Square entwendeten Unbekannte ein Schild mit der Aufschrift: »Stimmen Sie für die Horseman Woods Commons«.
Zusätzliches Personal war in Kingsland Park bei Mariah Van Rippers Trauerfeier vor Ort. Gemeinderat Halpern und seine Frau wurden angegriffen. Jackie Halpern wurde mit leichten Verletzungen im Phelps Memorial Hospital behandelt. Es gab keine Festnahmen.
* * *
Am Mittwochmorgen kam Ruth Ten Eckye vorbei, um die fingerlosen Handschuhe abzuholen, die Aubrey für sie gestrickt hatte. Die Kälte strömte hinter Ruth in die Strickstube hinein. Sie riss die Handschuhe an sich und hielt sie von allen Seiten prüfend gegen das Licht. Aubrey hob ihr Kinn; ihr fehlte es in vieler Hinsicht an Selbstbewusstsein, doch von ihren Fähigkeiten beim
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