Die Wuensche meiner Schwestern
Stricken war sie überzeugt. Ihre Maschen waren ebenmäßig, die Enden geschickt eingeflochten. Ruth legte die Handschuhe zusammen, steckte sie in ihre Handtasche und ließ den Verschluss zuschnappen.
»Wann werde ich Resultate sehen?«, fragte sie.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete Aubrey. »Es kann sofort geschehen. Es kann eine Weile dauern. Es kann auch überhaupt nicht eintreten. Sie müssen mich auf dem Laufenden halten, was passiert.«
Ruth zog die Bleistiftstriche, die ihre Augenbrauen darstellten, hoch.
»Oder auch nicht«, fügte Aubrey hinzu.
Das Glöckchen über der Tür klingelte, als Ruth das Haus verließ, doch kaum war sie gegangen, erschien auch schon die nächste Kundin. Die Strickerei hatte keine regelmäßigen Öffnungszeiten: Besucher hatten stets auf ihr Glück vertraut, um Mariah abzupassen, und wenn sie mal keins hatten – wenn Mariah nicht im Haus oder krank oder zu beschäftigt war –, waren sie stets eingeladen, ein anderes Mal wiederzukommen.
Aubrey erkannte das Mädchen wieder, das nun vor ihr stand. Sie hieß Blanca und lebte einen Häuserblock weiter in Tappan Square. Sie trug eine scharlachrote Collegejacke und war in jeder Hinsicht rund – rundes Gesicht, runde Augen, runde Wangen. Außerdem hatte sie schwere, tiefhängende Brüste, die besser zu einer doppelt so alten Frau gepasst hätten. Sie trug ihr langes braunes Haar offen. Wenn Aubrey mit ihr zur Highschool gegangenwäre, hätte sie sich bei ihr auf keinen Fall unbeliebt machen wollen.
»Wo ist Mariah?«, fragte das Mädchen.
»Sie ist nicht hier«, erwiderte Aubrey. Hätte sie gesagt, dass Mariah tot war, wären sie und das Mädchen zu einer Unterhaltung über das Wann und Wie und zu gemurmelten Beileids- und Verständnisbekundungen gezwungen gewesen. Davon hatte Aubrey in den letzten Tagen genug gehabt.
»Weißt du, wann sie zurück sein wird?«
»Warte besser nicht auf sie. Vielleicht kann ich dir ja helfen?«, erwiderte Aubrey.
Das Mädchen ließ einen kaum unterdrückten Fluch hören. »Ich habe ein Problem. Es geht um dieses Teil, das Mariah für mich gestrickt hat.« Sie griff in ihre große Handtasche und zog einen Schal mit im Flechtmuster gestrickten roten und schwarzen Rauten heraus. »Ich muss es zurückgeben.«
»Ach? Wieso?«
»Es funktioniert nicht.«
Aubrey seufzte. An diesem Morgen hatte sie, noch bevor sie den Kopf vom Kissen gehoben und aus dem Fenster gesehen hatte, bereits gewusst, dass es ein Herbsttag ganz nach ihrem Geschmack werden würde – ein Tag, der kalt und dunkel anfing, am Nachmittag aber wärmer wurde, wie ein knisterndes Feuer. Ein Tag, um Äpfel zu pflücken oder mit dicker Wolle zu stricken. Sie hatte ihre Lieblingsjeans und einen dicken Aran-Pullover mit einem wundervollen Zopfmuster angezogen, der so groß war, dass sie darin fast verschwand. Nun dachte sie, sie hätte besser eine Rüstung angelegt.
»Erzähl mir die ganze Geschichte«, forderte sie das Mädchen auf.
Und das tat Blanca. Sie war das älteste von sechs Geschwistern. Ihr jüngster Bruder war zweieinhalb. Blancawollte unbedingt aufs College gehen, und sie hatte ganz allein herausgefunden, wie sie ihre Bewerbungen zusammenstellen, die Anmeldegebühren bezahlen und alles abschicken musste. Sie hatte tatsächlich eine schriftliche Zusage von einem kleinen College im Norden bekommen. Das Problem war nur, dass ihre Mutter vor einem Jahr gestorben war und ihr Vater sie nicht gehen lassen wollte. Er beharrte darauf, dass man auch ein gutes Leben haben konnte, ohne so viel Geld für die Ausbildung auszugeben.
»Ich habe alles getan, was Mariah von mir verlangt hat«, schloss Blanca. »Ich habe meinem Vater den Schal gegeben. Aber nichts ist geschehen. Was mache ich nur falsch?«
Aubrey hatte das Gefühl, langsam zu versinken. »Darf ich fragen, was du im Austausch für den Zauber aufgegeben hast?«
»Mein Medaillon. Ich habe es von meiner Mutter bekommen, darin ist ein Bild von uns beiden.«
Aubrey nickte. Sie hatte das Medaillon im Turm gesehen. Es war wunderschön, aus mattem Gelbgold mit einem Blumenmuster. Aubrey bemühte sich, so zu klingen, als hätte sie es ständig mit unwirksamen Zaubersprüchen zu tun. »Nun, lass ihn den Schal noch ein bisschen länger tragen. Manchmal kann so etwas eine Weile dauern.«
»Ich habe aber keine Zeit mehr«, erwiderte das Mädchen. »Ich habe eine Zusage bekommen und muss bald eine Anzahlung leisten. Ich habe bei dem Zauber unter anderem darum gebeten, dass
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