Die Wuensche meiner Schwestern
dürfen, was sie in den letzten vier Jahren getan hatte. Wie ihr Leben verlaufen war. Sie wünschte sich, ihre Schwestern hätten ihr gegenüber die Höflichkeit eines gesunden Misstrauens besessen, vielleicht mit einer Prise familiärer Neugier. Aber die beiden hatten sie einfach beim Wort genommen.
Auf ihren Reisen hatte sich Meggie manchmal gefragt, wie es ihren Schwestern wohl gerade ging. Als sie in Nashville mit dem Besitzer eines billigen Motels wegen der kaputten Dusche auf ihrem Zimmer verhandelte, kaufte da Bitty vielleicht gerade an der Snackbar im Kino Schokoladenriegel und Popcorn für ihre Kinder? Als Meggie ihr Pfefferspray fest umschlossen hielt und sich fragte, ob der Mann, den sie eben noch nach ihrer Mutter ausgefragt hatte, ihr nun in eine der dunklen Gassen von Detroit gefolgt war, hatte Aubrey es sich da gerade mit »Jane Eyre« und einer Tasse Tee gemütlich gemacht? Als sie überlegte, wie sie Lance in Dallas bloß erklären sollte, dass es völlig egal war, ob sie ihn liebte oder nicht, weil sie nun einmal einfach gehen musste – machten ihre Schwestern sich da auch nur ein einziges Mal Gedanken darüber, wo ihre Mutter sein mochte? Oder was es ihnen wert wäre, sie zu finden?
Sie kam an dem Maschendrahtzaun vorbei, hinter dem Mr. Smiths alter Dobermann früher immer nur halb sowütend wie sein Besitzer geknurrt und gebellt hatte. Sie ging schnaufend den Hügel östlich der Strickerei hinauf und erblickte das Haus, vor dem sich einst ein steinerner Brunnen in Form einer Frau befunden hatte, die Wasser aus einer Amphore goss, wo heute jedoch nur noch eine leichte Vertiefung im Garten die Stelle anzeigte, an der die Statue gestanden hatte. Die alte Nachbarschaft ihrer Kindheit löste in Meggie eine Sehnsucht nach ihrer Tante Mariah aus, in deren Armen stets Platz für ihre jüngste Nichte gewesen war, wenn ihre älteren Schwestern nichts mit ihr zu tun haben wollten.
Meggie trat gegen den Pfosten eines Briefkastens, und auf einmal wurden ihr zwei Dinge bewusst: Erstens würde sie nicht mit Aubrey zum Tappan-Watch-Treffen am Abend gehen. Zweitens war es nicht Verärgerung gewesen, was sie nach der Lektüre von Bittys Brief verspürt hatte. Es war Neid. Derselbe Neid, den sie als Kind empfunden hatte, wenn ihre Schwestern sie wegschickten, um über »Große-Mädchen-Sachen« zu sprechen; der Neid, der in ihr gärte, weil Bitty und Aubrey ihre Mutter tatsächlich gekannt hatten und Meggie selbst sich kaum noch an sie erinnern konnte; Neid, weil sie so viele Jahre für die Suche nach einer Frau geopfert hatte, die ihr eigentlich fremd war, während ihre Schwestern einfach ihr Leben lebten.
Sie war einmal um den Block gegangen und stand nun wieder vor der Strickerei, hielt jedoch inne. Vor ihr erhob sich, halb verfallen und doch noch immer machtvoll, der Kern ihres Problems. Ihre Gefühle dem alten Gebäude gegenüber waren so verworren wie dessen Architektur. Wie Bitty hatte auch Meggie Hintergedanken: Ein Verkauf würde es ihr ermöglichen, auf der Suche nach ihrer Mutter etwas komfortabler zu leben, in Motels statt in Hostels zu übernachten und echtes Essen anstelle von Fast Food zu kaufen. Im Gegensatz zu Bitty hatte sie jedoch nicht vor, ihre Verkaufsabsichten für den grauenhaftenalten Kasten zu widerrufen. Es stand nun zwei gegen eine – doch Meggies eine Stimme war mehr wert als die beiden ihrer Schwestern zusammen. Sie war diejenige mit der moralischen Überlegenheit. Sie war diejenige, die das Richtige getan hatte.
Sie stand vor dem alten schwarzen Eisentor.
Sollte Meggie je wie Bitty einen Brief schreiben und ihn so feige auf dem Tisch hinterlassen, damit ihre Schwestern ihn am Morgen fanden, dann würde darin nur ein einziger Satz stehen:
Liebe Schwestern: Warum habt ihr nicht nach ihr gesucht?
Sie drückte das Tor auf und ging hinein.
* * *
Normalerweise liebte Aubrey die Bibliothek. Von außen betrachtet, gab sie das Bild eines weltgewandten Schulmeisters: streng, aber wohlwollend. Doch innen, ach, innen konnte der mürrische Neoklassizismus ihrer Fassade das warme und neugierige Wesen der Bibliothek nicht verheimlichen. Theoretisch war es in den Räumen leise. Aber sie waren niemals wirklich still. Selbst in den verschlafensten Nachmittagsstunden wirkte die Bibliothek so unruhig wie ein gescholtenes Kind, das mit den Beinen zappelt und vor sich hinsummt und alles tut, um nicht mit einem Strom von Fragen, Bemerkungen oder Liedern herauszuplatzen. Sogar die bebrillte und
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