Die Wuensche meiner Schwestern
altersgraue Patronin der Bibliothek, die in einem Goldrahmen an der Südwand hing und an bewölkten Tagen ein wenig missgestimmt wirkte, blickte mit freundlicher Zustimmung auf den Lesesaal hinab, wenn dieser in Sonnenlicht gebadet war undTarrytowns Schüler und Bücherwürmer es sich in großen, gemütlichen Sesseln bequem machten.
An diesem Tag jedoch empfand Aubrey ihre Arbeit als lästig. Sie ordnete überdimensionale Kunstbände im Sachbuchbereich neu ein, wobei sich stets ihr Rücken verspannte, und konnte sich einfach nicht konzentrieren. Sie vergaß ständig, was sie gerade tat. Während ihr Gehirn immer wieder versuchte, einen Gedanken festzuhalten, entglitten ihr diese beständig.
Sie starrte auf einen Buchrücken, ohne den Titel darauf zu erfassen. Während sie sich fragte, ob sie womöglich verliebt war – und allein schon, dass sie sich diese Frage stellen konnte, erschien ihr als Wunder –, zerfiel das Liebesleben ihrer Schwester in seine Einzelteile. Aubrey sah eine einfache Lösung für alle Probleme: Bitty und ihre Kinder sollten dauerhaft oder zumindest fürs Erste in die Strickerei ziehen. Doch unter all den Dingen, die Bitty in ihrem Brief angesprochen hatte, hatte sie einen verlängerten Aufenthalt in Tarrytown nicht erwähnt.
Aubrey stand neben dem launischen alten Lastenaufzug, der die Bücher brachte und forttrug, und starrte finster auf das Buch, das sie gerade in den Händen hielt, als plötzlich Jeanette hinter einem hohen Regal hervortrat wie aus einem Heckenlabyrinth. Sie trug einen grapefruit-rosa Pullover, unter dem der Kragen eines weißen T-Shirts hervorblitzte. Ihr Haar war zu taudicken Zöpfen geflochten.
»Oh, hi!«, rief Aubrey ein wenig zu laut. Sie senkte die Stimme. »Was machst du denn hier? Ich dachte, du hattest die Morgenschicht?«
»Das stimmt. Ich bin hier, um dich zu sehen. Ich wollte alle Details über dein Date gestern erfahren.«
Aubrey lächelte. »Kennst du das Gefühl, wenn du auf der Spitze der Felsen bei Anthony’s Nose über dem Fluss stehst und der Wind ein bisschen bläst und es dir so vorkommt,als könntest du abspringen, und der Wind würde dich auffangen, und dir würde nichts passieren?«
»Bitte versprich mir, dass du das niemals ausprobieren wirst.«
»Also, es war ein richtig gutes Date.«
Aubrey hatte noch einmal kurz mit Vic gesprochen, als dieser sie auf dem Handy angerufen hatte, um sicherzugehen, dass es ihr gutging. Seine Aufmerksamkeit rührte sie, und sie hatte immer noch seine warme, beruhigende Stimme im Kopf.
Jeanette stellte tausend Fragen zu ihm und ihrer Verabredung: Wohin hat er dich ausgeführt? Was hast du gegessen? Hat er dich geküsst? Hast du ihn rangelassen? Und Aubrey antwortete im geübten Flüsterton, nur so laut wie nötig, um verstanden zu werden. In ein paar Sätzen erzählte sie Jeanette auch kurz von dem Vorfall mit Craig.
Als Jeanettes Fragenstrom schließlich zu verebben schien, veränderte sich ihre Stimme. Sie senkte den Kopf und blickte durch dichte schwarze Wimpern zu Aubrey hinauf, der Inbegriff von Demut. Aubrey war sogleich auf der Hut.
»Also … apropos Romantik, ich wollte dich um einen Gefallen bitten«, setzte Jeanette an. »Du musst mir einen Liebeszauber stricken.«
»Für wen?«
»Für Mason Boss.«
Aubrey lachte.
»Hey, das ist mein Ernst. Ich will ihn unbedingt.«
»Vor zwei Monaten wolltest du noch den Typen, der auf dem Bauernmarkt arbeitet.«
Jeanette grinste. »Und ich habe ihn bekommen. Dank dir.«
Aubrey spürte, wie ihr Unbehagen die Wirbelsäule hinaufkroch. Während Aubreys Liebesleben im Regal verstaubte, war Jeanettes zügellos. Jeanette verfiel einemMann nicht einfach; sie suchte nach der höchsten Klippe und stürzte sich davon hinunter. Sie sprang, ohne vorher nachzusehen, wie tief das Wasser war. Man musste ihr jedoch zugutehalten, dass sie immer wieder auftauchte, sich trockenschüttelte, einmal ausgiebig weinte und dann wieder hochkletterte, um das Gleiche von neuem zu tun.
Aubrey fasste ihrer Freundin an die Schulter. »Du brauchst keinen Zauber, um diesen Mann auf dich aufmerksam zu machen. Sieh dich doch an. Du bist ein Meter achtzig groß, hast Wangenknochen wie ein Supermodel und Muskeln wie Wonder Woman. Es wäre merkwürdig, wenn er nicht auf dich aufmerksam würde.«
»Aber was, wenn ich nicht sein Typ bin? Du musst das für mich tun. Komm schon, Aub. Bitte! Es ist nicht fair, dass du auf einmal nur noch von Vic erzählst, während ich dich lediglich um
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