Die Wundärztin
sich den ganzen Tag nicht hatte blicken lassen, hatte Elsbeth schon befürchtet, er wäre allein, ohne sie und Carlotta, aus der Stadt aufgebrochen. Nach dem, was er heute im Gasthaus erfahren hatte, musste alles in ihm danach drängen, sich endlich wieder auf den Weg zu machen.
Erwartungsvoll stellte sie ihm eine Schüssel warmer Suppe und einen Krug Bier auf den Tisch.
»Gib mir auch noch was von der Suppe. Es ist kalt, da tut die Brühe gut«, grummelte Luise und klappte das Buch zu, in dem sie seit Stunden las. Carlotta, die auf ihrem Schoß hatte sitzen und die Bilder darin betrachten dürfen, patschte freudig in die Hände. Elsbeth ging zurück zum Herd, nahm das grobkörnige Brot aus dem Tontopf, das sie am Nachmittag frisch gebacken hatte, und schnitt eine dicke Scheibe ab.
»Spar dir das. Hunger habe ich keinen.« Eric winkte ab. »Morgen früh brechen wir auf. Pack zusammen, was du für nötig hältst, und leg dich schlafen. Es wird keine sonderlich angenehme Reise.«
»Was ist mit Carlotta?« Ihre Stimme zitterte, wie auch ihr ganzer Leib auf einmal bebte. So lange hatte sie auf diesen Moment gewartet. Trotzdem war es nicht so sehr Freude, was sie auf einmal erschauern ließ.
»Was soll mit ihr sein? Mitkommen wird sie, was sonst?« Überrascht sah er erst sie, dann das kleine Mädchen auf Luises Knien an. »Eher lasse ich dich zurück als mein Kind. Wenn du ihrer überdrüssig bist, sag es nur gleich. Notfalls werde ich allein mit ihr zurechtkommen.«
Damit wandte er sich ab, doch sie huschte schnell an ihm vorbei und versperrte ihm am Treppenabsatz mit ausgestreckten Armen den Weg. »Wie kommst du darauf, ich könnte Carlotta im Stich lassen? Die Kleine ist mein Ein und Alles. Niemals lasse ich sie mir wegnehmen.«
»Das wird Magdalena auch gedacht haben. Doch du hast sie gar nicht erst gefragt, als du mit Carlotta verschwunden bist.«
Eine Weile konnte sie dem anklagenden Blick seiner blauen Augen standhalten, dann gab sie Eric widerstrebend den Weg frei. Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang er die Treppe hinauf. »Und du fragst sie wohl lieber auch nicht!«, rief sie ihm zornig hinterher. »Wie ist es sonst zu verstehen, dass du ihre Ankunft hier in Würzburg nun doch nicht mehr abwarten willst?«
Oben angekommen, drehte er sich langsam zu ihr um. Auch im Halbdunklen sah sie deutlich den Schatten, der über sein Gesicht huschte. Einen Augenblick schwankte seine hünenhafte Gestalt. Sie fürchtete schon, er kippte kopfüber nach vorn. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper, und er erklärte mit hocherhobenem Kopf: »Spar dir deine Lügen. Du weißt genauso gut wie ich, dass Magdalena nicht einmal ahnt, wo wir drei uns aufhalten. Nie hast du ihr eine Nachricht geschickt oder versucht, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Wer weiß, was sie erleiden muss? Deshalb werde ich sie suchen und die Kleine zu ihr bringen.«
»Du willst sie suchen? Wo denn? Und was wird aus unserer Reise nach Köln?« Sie raffte ihren weiten, vielfach geflickten Leinenrock und wollte ebenfalls die Treppe hinauf, da öffnete sich die Tür zur Studierstube, und Doktor Mattes trat auf den Flur. Seine dürren Gliedmaßen wirkten spinnenartig, sein eckiger Schädel mit dem spärlichen, weißen Haar wackelte unermüdlich.
»Was höre ich da: Ihr wollt nach Köln, mein Lieber? Was zieht Euch denn dorthin?« Das Krächzen seiner Stimme weckte bei Elsbeth unliebsame Erinnerungen an die Hebamme Roswitha. Sie wollte jetzt nicht auch noch an deren ungeklärtes Schicksal erinnert werden und hoffte, er räusperte sich, um die Stimme zu glätten. Wenn er wollte, konnte er viel einfühlsamer sprechen.
»Nichts, das ist ein Irrtum. Von Köln war nie die Rede. Elsbeth muss da etwas falsch verstanden haben«, erwiderte Eric und drückte sich sogleich an ihm vorbei in seine Kammer.
Erst da entdeckte der Gelehrte Elsbeth unten am Fuß der Treppe. Ein Ausdruck freudiger Erwartung breitete sich auf seinem Gesicht aus. Gegen ihren Willen musste sie schmunzeln. Zwar nagte die Enttäuschung an ihr, dass sie wieder nicht nach Köln konnte. Doch da ein Leben ohne Carlotta für sie unvorstellbar war, musste sie wohl oder übel Eric folgen, selbst um den Preis, Magdalena wiederzubegegnen. Was aber sprach dagegen, sich nun ein wenig Ablenkung zu verschaffen? Noch dazu, wo sie nicht ahnte, wann sie jemals wieder etwas ähnlich Tröstliches wie die Liebe mit dem Gelehrten erleben würde? Erics Behauptung kam ihr in den Sinn, dass Mattes nichts anderes als
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