Die wunderbare Welt der Rosie Duncan
Sie war ein fast schon krankhaft schüchternes Kind, das seine Kindheit in New Jersey vor allem damit verbracht hat, sich vor den Nachbarskindern zu verstecken, die schon früh gemerkt hatten, dass Marnie und ihre Familie irgendwie anders waren als alle anderen Familien in der Straße. Marnie wurde verspottet wegen ihrer selbst genähten bunten Klamotten, die ihre Mutter, eine Künstlerin, ihr mit viel Liebe und den allerbesten Absichten anzog, wegen ihres rauschebärtigen Vaters, eines Kunstlehrers, der aussah, als lebe er noch immer in den Sechzigern, und wegen des alten orangefarbenen VW-Busses, der vor ihrem Haus stand und inmitten der anderen Familienkutschen wie ein gestrandetes Ufo wirkte. Obwohl ihre Eltern sie von klein auf zur Individualität ermutigt hatten, brachte erst ein Zwischenfall auf Marnies »Sweet Sixteen«-Schulball sie dazu, sich selbst mit anderen Augen zu sehen – und sich zu behaupten.
Da sie für den Abend kein Date hatte, gesellte sie sich zu dem kleinen Häuflein derer, die auch keinen Tanzpartner hatten und nun verschämt in einer Ecke zusammenhockten und hofften, dass jemand sie doch – bitte, endlich! – bemerken würde. Zur allgemeinen Überraschung ließ auf einmal einer der beliebtesten Jungs des Jahrgangs seine Partnerin stehen und wagte sich entschlossenen Schrittes hinüber ins »Niemandsland« und forderte Marnie zum Tanzen auf. Marnie wurde knallrot und folgte ihm schüchtern auf die Tanzfläche. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Gerade als sie seine Hand nehmen wollte, sah sie, wie sich die Miene
ihres Retters zu einem grausamen Grinsen verzog. Er griff nach ihrem Rock, warf ihn ihr über den Kopf und schrie: »Achtung, der Freak ist los!« Um sie herum brach lautes Gelächter aus.
Und dann geschah das, was Marnie noch heute »meine Erleuchtung« nennt. Sie widerstand der Versuchung wegzulaufen und blieb mitten im Saal stehen, wo aus ihr hervorbrach, was sich in all den Jahren angestaut hatte. Wie ein kunterbunter Vulkan kam sie zum Ausbruch. Dem tollen Typen blieb keine Chance, als Marnie ihn mit der wutgeballten Linken niederstreckte, dass sein Kiefer nur so krachte. Benommen lag er auf dem Boden, angestrahlt vom funkelnden Licht der sich unermüdlich drehenden Discokugel.
»Lieber ein Freak als so ein Arschloch wie du!«, schrie Marnie und wurde mit spontanem Applaus aus dem Niemandsland belohnt. Dieses Erlebnis sollte sie grundlegend verändern – was sich noch am selben Abend zeigte, als auf einmal Jungs bei ihr Schlange standen, die sie bislang keines Blickes gewürdigt hatten. Von da an war Marnies Liebesleben stets sehr bunt und abwechslungsreich, wenngleich nicht unbedingt erfolgreich. Und doch hat die ausgeflippte junge Frau, die jeden Morgen bei Kowalski’s frischen Wind in den Laden bringt, sich ihr hart erkämpftes Selbstbewusstsein und ein sonniges Gemüt bewahrt – und ich wollte sie um nichts auf der Welt missen.
Sollten Marnie und ich allen Ernstes gehofft haben, dass Ed hinsichtlich Carly ernste – oder ernstere – Absichten hegte, so wurden wir bald eines Besseren belehrt. Bis Montag hatte er schon wieder Verabredungen mit drei anderen Frauen an Land gezogen, und Carlys Name fiel nie wieder. Als Marnie ihn in der Woche darauf ein bisschen ausfragen wollte, bekam sie als Antwort nur ein gleichgültiges Schulterzucken
und ein mürrisches »Hatten unterschiedliche Vorstellungen« – was im Klartext heißen dürfte, dass Carly die Sache wohl ernsthafter hatte betreiben wollen als er. Irgendwie war es seltsam tröstlich zu wissen, dass alles weiter seinen gewohnten Gang nahm und der Steinmann-Dating-Express weiter in seinen unverbindlichen Gleisen dahinraste. Es bestärkte mich in dem Glauben, dass bei Kowalski’s (und in meinem Leben) alles beim Alten wäre und immer so weitergehen würde, und das fand ich sehr beruhigend: Ed datete noch immer, Marnie lief so kunterbunt herum wie immer, und ab und an kam Celia hereingerauscht, wirbelte alles durcheinander und rauschte wieder hinaus. Nach wie vor war der Laden Herz und Seele des Viertels. Das alles gab mir ein Gefühl von Sicherheit – und niemand weiß dieses Gefühl mehr zu schätzen als ich.
Wie hätte ich ahnen können, dass mir zunächst harmlos anmutende Ereignisse bevorstanden, die alles verändern würden?
4
Was könnte schöner sein, als nach einem langen Tag nach Hause zu kommen! Damit wir uns hier nicht falsch verstehen: Ich liebe meine Arbeit, und ich liebe meinen Laden. Aber
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