Die wunderbare Welt der Rosie Duncan
Ausmaß des Grauens: Rosie Duncan mit genau drei Stunden und sechsundzwanzig Minuten Nachtschlaf. »Wahre Schönheit kommt von innen«, tröstete ich mein Spiegelbild, das sich allerdings wenig überzeugt zeigte. Und ich hätte schwören können, dass ich den Spiegel erleichtert aufatmen hörte, als ich mich endlich abwandte und aus dem Bad trottete.
James schlief noch tief und fest, als ich an ihm vorbei in die Küche ging. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, dem nichts und niemand den Schlaf rauben kann. Und im Laufe der Jahre hatte es so manches gegeben, das ihn um den Schlaf hätte bringen können. (Ich muss es wissen, da ich das Vergnügen hatte, ihn aus unzähligen verzwickten Situationen herauszuboxen, die sensibleren Naturen gewiss lebenslange Schlafprobleme beschert hätten.) In Oxford wurde er »Acht-Stunden-Duncan« genannt, weil er jede Nacht mindestens acht Stunden durchschlief – sogar in stressigen Prüfungsphasen.
Bevor ich aus dem Haus ging, machte ich ihm noch schnell eine Tasse Tee, hockte mich neben das Sofa und berührte meinen Bruder sanft an der Schulter, um ihn zu wecken. Erst regte er sich nur kaum merklich, dann blinzelte er verwirrt, konnte nur mit Mühe die Augen offen halten, blinzelte wieder und versuchte mich zu erkennen.
»Hmmm?«, murmelte er.
»Morgen, du Schlafmütze«, flüsterte ich und musste beim Anblick meines verschlafenen großen Bruders lächeln.
Ein Lächeln huschte über sein schlaftrunkenes Gesicht. »Mmmh … Morgen, Rosie.«
Ich zerzauste ihm die verstrubbelten roten Haare. »Gut geschlafen?«
»Ja, fantastisch … wie immer. Musst du schon los?« Seine braunen Augen waren noch etwas unfokussiert auf mich gerichtet.
»Ja, aber gegen sieben bin ich zurück, also überleg dir schon mal, was du heute Abend machen willst, okay?« Als ich aufstehen wollte, war James auf einmal hellwach und hielt mich zurück. »Rosie, wegen dem, was du gestern Abend gesagt hast … Es gibt tatsächlich ein Problem.«
Ich hatte es geahnt. Mein Magen krampfte sich zusammen. »James, wenn du nicht darüber reden willst, musst du nicht …«
Mit großen Augen sah er mich an und hielt meine Hand noch fester. »Aber genau darum geht es, Rosie. Ich will mit dir darüber reden … aber im Moment geht es nicht. Noch nicht. Gib mir etwas Zeit, und ich werde dir alles erklären. Versprochen.«
Ich widerstand der Versuchung, weitere Fragen zu stellen, machte mich von ihm los und drückte ihm die Teetasse in die Hand.
»Ich werde dich daran erinnern«, meinte ich lächelnd,
doch draußen im Hausflur musste ich mich erst mal einen Moment lang an die Wand lehnen und tief durchatmen, um mich zu beruhigen. Ein leider allzu vertrautes Gefühl drohenden Unheils war über mich gekommen. In was ist er jetzt wohl wieder hineingeraten?
Als ich bei Kowalski’s ankam, war noch niemand da. Keine Marnie, kein Ed. Das war ungewöhnlich, gelinde gesagt. Ich machte den Laden also ganz allein auf und wartete auf die Lieferung von Patrick’s. Um halb acht fuhr der grünweiße Lieferwagen vor, und Zac sprang heraus. Zac ist groß und blond, durchtrainiert und sieht umwerfend aus, ist dabei aber so sanft wie ein Kätzchen. Außerdem ist er in Marnie verliebt, obwohl sie bislang jeden seiner Annäherungsversuche mit ganz untypischer Gleichgültigkeit hat ins Leere laufen lassen – untypisch auch deshalb, weil sie mir mehr als nur einmal anvertraut hat, dass sie ihn total süß findet.
Zac hat in derselben Woche bei Patrick’s angefangen wie ich bei Mr Kowalski. Auch er hat einen einträglichen Job in der City aufgegeben, um mit Blumen zu arbeiten, nachdem das schnelle Leben an der Wall Street seinen Tribut gefordert und er mit gerade mal vierundzwanzig kurz vor einem Nervenzusammenbruch gestanden hatte.
»Unser Zaccai ist ein gutes Beispiel dafür, wie Papa uns durch das Wunder seiner Blumen heilen kann«, meinte Mr Kowalski stets sehr weise.
Und etwas Wahres musste daran sein, denn Blumen schienen Zac wirklich glücklich zu machen. Sein Lächeln war ein ebenso vertrauter und allgegenwärtiger Anblick wie sein grünweißes Firmenshirt und der kurze, ebenfalls grünweiße Bleistiftstummel, der immer hinter seinem linken Ohr klemmte. Ed hat schon oft und lange darüber nachgedacht,
warum dieser Bleistift in all den Jahren nie kürzer geworden ist. Konnte es sein, dass alle Bleistifte bei Patrick’s so kurz waren? Oder verbrachte Zac seine Wochenenden damit, seine Bleistifte auf genau die
Weitere Kostenlose Bücher