Die Wunderheilerin
stellte den Stickrahmen zur Seite, legte eine Hand auf seine Schulter. «Müde bin ich. Habe den ganzen Tag im Laboratorium verbracht. Ich gehe schlafen.»
Er hob den Kopf, wartete darauf, dass sie die Stirn senkte, um den Abendkuss zu empfangen, doch sie tat es nicht, sondern nickte nur und verließ die Wohnstube.
Am nächsten Tag war Sonntag, ein freier Tag für die meisten Leipziger, nicht aber für den Stadtarzt, denn die Krankheiten wussten nichts von Sonn- und Feiertagen. Priska entschloss sich, ihre Schwester Regina zu besuchen, die sie seit der Hochzeit nicht mehr gesehen hatte. Regina war nun die Frau des Feuerknechtes und Magd bei einem Silberschmied. Ihr Haus lag noch innerhalb der Stadtmauern, aber schon nahe am Nauendörfchen, dem Wohnort des Henkers. Es war ein kleines Haus mit nur zwei Kammern und einem kleinen Gärtchen dahinter. Doch es war aus Stein, und der Boden war nicht aus gestampftem Lehm, sondern mit Dielen belegt.
Priska klopfte. Regina öffnete, doch kein Lächeln glitt über ihr Gesicht. «Du kommst hierher?», fragte sie und zog die Augenbrauen zusammen. «Was willst du?»
«Dich besuchen. Sehen, wie es dir geht. Du bist meine Schwester.»
Regina nickte, dann öffnete sie die Tür und ließ Priska ein. Sie wies mit der Hand auf einen Stuhl, den Priska als Möbel aus Evas Haushalt erkannte. «Setz dich, wenn du magst.»
Priska tat wie ihr geheißen. Regina setzte sich auf die andere Seite des Tisches, legte die Hände verschränkt auf die Platte und sah Priska neugierig an.
«Das Leben als Arztfrau bekommt dir gut. Deine Haut ist rosig, dein Haar glänzt, deine Hände zeigen, dass schwere Arbeit ihnen fremd ist.»
Priska sah auf ihre Hände, dann auf Reginas. Ihre Nägel waren rosig und glänzten, die von Regina waren kurz, die Nägel gebrochen und von stumpfer Farbe. Die Haut war rau und ein wenig rissig sogar.
«Guck nur. Schau sie dir an, meine Hände. Sieh, was geschieht, wenn man den ganzen Tag als Magd dienen muss, die Laken waschen, das Gemüse putzen, die Stuben scheuern muss. Und kaum ist man damit fertig, wird man in die Werkstatt gerufen zum Löten und Walzen, zum Schlagen und Drahtziehen.»
Reginas Stimme klang schrill und anklagend. «Und schau dir mal mein Haar an. Es hängt herunter wie Sauerkraut. Ich habe keine Zeit, es mit Kamille zu spülen, und kein Geld, um es mit Essig zum Glänzen zu bringen.»
«Soll ich dir Kamille und Essig bringen am nächsten Sonntag?», fragte Priska.
Regina schüttelte den Kopf. Ihre Augen blitzten. «Da sitzt du nun und willst mich mit Geschenken verhöhnen. Die eigene Schwester, den anderen Teil der Seele mit Almosen beschwichtigen.»
«Das stimmt nicht. Du selbst hast dieses Leben gewählt. Du hättest es anders haben können, hättest Kamille und Essig, Salbe und Schmalz haben können. Auch wir stehen noch am Anfang, rechnen noch mit jedem Heller», wandte Priska leise ein.
«Pah!», machte Regina. «Ich bekomme einen Achtelgulden im Vierteljahr, ein bisschen vom einfachsten Tuch. Dein Mann aber erhält zwölf Heller allein beim Besehen des Wassers. Mit eigenen Augen habe ich gesehen, wie er das Harnglas nahm, es gegen das Licht hielt, daran roch und die Hand ausstreckte, damit die Mutter meines Herrn die Geldkatze zückte.»
«Er hat auch Ausgaben», rechtfertigte Priska sich. «Ich bin seine Gehilfin, suche selbst in den Auen nach Kräutern, mische die Salben an und braue die Tränke.»
«Und auf dem Markt, wie ist es da? Gestern habe ich dich gesehen, wie du da gingst mit stolz gerecktem Kopf und die Bäuerin es nicht wagte, dir den Kohl zu geben, der eine faule Stelle hatte. Gegrüßt haben dich die Leute von allen Seiten. Du brauchtest nur zu nicken, und sie waren zufrieden. Ich aber muss zuerst den Mund öffnen und den Kopf senken, kommt eine Bürgersfrau vorüber.»
«Der Mund fällt von allein wieder zu.»
«In der Kirche sitzt du auf einer Bank. Ich aber muss an der Seite stehen.»
Priska blickte sie an. «Willst du mit mir streiten? Deshalb bin ich nicht gekommen.»
«Nicht? Weshalb dann?»
«Ich wollte sehen, wie es dir geht. Du bist meine Schwester. Fragen wollte ich, ob ihr was braucht, du und der Deine.»
Regina warf den Kopf zurück. «Ich glaube dir nicht. Weiden wolltest du dich an unserem Elend. Wolltest die Armut mit eigenen Augen sehen, wolltest schauen, ob ich nun demütig geworden bin.»
«Nein, das stimmt nicht.»
Regina hörte Priskas Einwurf nicht. «Gekommen bist du, um dir
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