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Die Wunderheilerin

Die Wunderheilerin

Titel: Die Wunderheilerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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weiß auch nicht, was gerade in mich gefahren war.»
    «Entschuldigt Euch nicht», bat der Fremde. «Wir alle holen uns das, wonach wir uns sehnen.»
    «
Nein!
Das ist nicht wahr, das stimmt nicht. Ich habe mich nicht danach gesehnt», sprudelten die Worte aus Priskas Mund hervor.
    Anstelle einer Antwort griff der Mann nach ihrer Hand und küsste ganz leicht ihre Fingerspitzen. Priska spürte, wie sie errötete. Die Scham überflutete sie mit einer solchen Wucht, dass sie am liebsten davongelaufen wäre. Gleichzeitig aber hatte sie den Eindruck, dass hier, genau hier, ihr eigentlicher Platz war.
    Sie rang um Fassung. Schließlich sagte sie noch einmal: «Ihr könnt hier nicht bleiben. Ihr würdet erfrieren. Oder noch einmal zusammengeschlagen. Ich werde Euch in die Stadt bringen.»
    «Was wollt Ihr den Torwächtern sagen?», fragte der Mann und zupfte an seinen Schläfenlocken. «Sie werden mich niemals in ihre Stadt lassen.»
    «Nichts werde ich sagen», erwiderte Priska. «Die Torwächter kennen mich. Aber von Euren Schäfchenlocken müsst Ihr Euch wohl trennen.»
    Sie machte das Messer von ihrem Gürtel los.
    Er widersprach: «Ich soll mir die Peies, die Schläfenlocken, abschneiden? Aber in der Bibel steht geschrieben: ‹Ihr sollt euer Haar am Haupt nicht rundherum abschneiden!›»
    Priska schüttelte den Kopf. «Ich kenne die Stelle nicht. Auch die Torwächter werden nicht wissen, was genau in der Heiligen Schrift geschrieben steht. Diese Locken sind das Kennzeichen der Juden. Also müssen sie ab! Ihr dürft nur während der Messe in die Stadt. Und diese beginnt erst übermorgen. Bis dahin könnt Ihr unmöglich hier bleiben. Also!»
    Der Mann seufzte, dann lächelte er. «Ich ergebe mich.»
    Priska griff das Messer fester und nahm die erste Strähne in die Hand.
    «Ihr nehmt mir meine Manneskraft», scherzte der Mann. «Ich habe immer gewusst, dass es eines Tages so weit kommen wird.»
    Priska erschrak. «Ich nehme Euch die Manneskraft?», fragte sie verwirrt und schuldbewusst zugleich. «Wie das?»
    Der Mann lachte. «Kennt Ihr Eure Heilige Schrift so wenig? Im Buch der Richter steht die Geschichte von Samson und Delila. Samson ist stärker als sonst ein Mensch. Seine heuchlerische Geliebte fragt ihn, wo der Sitz dieser Kraft sei. Dreimal belügt er Delila, doch dann erzählt er ihr, dass das Geheimnis seiner Kraft sein Haar ist, das seit der Geburt nicht geschnitten worden sei. Als er schläft, schneidet Delila sein Haar – und nimmt ihm damit die Kraft.»
    Er lachte und stöhnte zugleich. «So sind die Weiber», setzte er hinzu. «Kein Mann kann einen anderen so leicht besiegen wie ein Weib.»
    Priska war noch immer verwirrt. Sie verstand die Botschaft nicht. «Delila hat ihn verraten?», fragte sie und kam sich töricht dabei vor. «Ich bin nicht Delila. Noch nie habe ich einen Menschen verraten.»
    Doch eine Stimme in ihr fragte: «Stimmt das? Hast du tatsächlich noch nie einen Menschen verraten? Was ist mit Regina? Sie ist kein Mann, aber ein Verrat an der Schwester wiegt womöglich noch schwerer. Und Adam? Hast du nicht auch ihn verraten, als deine Hand über die Brust des Fremden fuhr?»
    «Und Adam? Wie oft hat er mich verraten?», schalt sie ihre innere Stimme.
    «Ist Euch nicht wohl?» Der Fremde betrachtete Priska belustigt.
    «Wie? Nein, ja, natürlich ist mir wohl. Wir sollten jetzt gehen, damit ich die Wunden versorgen kann. Schafft Ihr es, allein aufzustehen?»
    Der Fremde nickte. Mühsam und immer wieder stöhnend raffte er sich auf. Er stützte sich auf Priska, diese umfasste seine Hüfte mit dem einen Arm. Mit kleinen Schritten und sehr langsam kamen sie voran. Die Dämmerung war bereits angebrochen, als sie das Stadttor erreichten.
    Die beiden Torwächter begrüßten Priska höflich, doch den Mann musterten sie sehr genau.
    «Wer ist der Fremde? Wo will er hin, wo kommt er her? Was treibt ihn in unsere Stadt?»
    Für einen Augenblick hatte Priska Angst. Sie spürte, wie sich der Körper des Fremden versteifte.
    Also reckte sie das Kinn so hoch sie konnte und erklärte mit dem größten Hochmut, zu dem sie fähig war: «Ich glaube, Ihr Tölpel wisst nicht, wen Ihr vor Euch habt. Ich bin die Frau des zweiten Stadtarztes. Es steht Euch nicht an, nach meinem Woher und Wohin zu fragen, und es steht Euch ebenfalls nicht an, diese Fragen meinem Begleiter zu stellen.»
    Sie spürte den Blick des Fremden auf sich. Und ja, sie schämte sich für ihren Hochmut, aber ging es denn anders?
    «Los

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