Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
Vorhang, wo sie schnell zum Laptop sprang, sich einloggte und eine kurze Nachricht hinterließ.
Holly_Go!
Hier scheint überall die Sonne, es ist ein wunderbarer Tag. Faye
Sie starrte eine Weile auf den Bildschirm und wartete auf eine Antwort, die aber nicht kam. – Natürlich nicht, was glaubte sie denn? Alex war noch im Zug und würde erst in der Nacht ankommen. – Dann ging sie zurück in den Laden, weil das Warten sie wahnsinnig machen würde. Sie ließ sich treiben, mitten hinein in den Tag, der jetzt überall war, in jeder Ecke, jedem Geräusch, sogar in ihrem Kopf. Sie tat einfach, was sie jeden Tag tat, nur heute, da konnte sie nicht anders, als all die Dinge, die sonst so gewöhnlich waren, mit einem Lächeln zu tun.
Nach der Arbeit – zum Abschied versprach sie Mica, am nächsten Tag schon um acht im Laden zu sein, weil er, erst einmal versuchsweise, eine Yogastunde auf dem Dach der Cafeteria der Long Island University anbot – ging sie ein paar Blocks zu Fuß, vorbei an der Borough Hall, bis rüber zur Johnson Street, wo die Studenten des Tech Colleges auf die Straße und hinab in die U-Bahn strömten. Ihr geregelter Tag war zu Ende, und für einen kurzen Moment ertappte sich Faye dabei zu überlegen, wie ihr Leben wohl aussähe, wäre sie noch immer Studentin. Sie hätte Mica Sagong vielleicht nie kennengelernt, und sie hätte nie im Real Books gearbeitet, und sie wäre nicht im Laden gewesen, wo sie dann Alex Hobdons Stimme gehört hatte. Wie seltsam das Leben doch sein konnte.
Mica, das wusste sie, würde natürlich sagen, dass alles Karma sei. Er glaubte nicht an Zufälle, sondern daran, dass die Fäden des Lebens sich zu einem Teppich verwoben, der immer ein ähnliches Muster haben würde, gleichgültig, was passierte. Faye indes wusste nicht, ob sie das ebenfalls glauben sollte, hielt es aber für einen wunderschönen Gedanken, der Raum für viele Lieder schuf.
Letzten Endes war es vielleicht auch egal. Sie war hier, mitten in Brooklyn, auf dem Weg zu ihrem Lieblingsplattenladen. Die Sonne stand jetzt tief am Himmel, und die Häuser warfen lange Schatten auf die Straßen. Die Luft selbst schien wie Gold, Blätter wehten über die Gehsteige, die Passanten hatten es um diese Uhrzeit genauso eilig wie am frühen Morgen, und der Gedanke, dass das Leben meist in einem viel zu schnellen Tempo ablief, ließ Faye kurz frösteln. Es gab Augenblicke, in denen ihr die Welt wie im Zeitraffer erschien, und aus einem Grund, den sie sich selbst nicht erklären konnte, war dies hier einer davon: Die Menschen bewegten sich so abgehackt, dass sie aussahen wie die Schauspieler in einem Stummfilm, sie bewegten rudernd die Arme, als imitierten sie Windmühlen. Ja, genau das waren sie: sich hektisch drehende, den Weg durchs Getümmel suchende Windmühlen mit Krawatten und dürren Armen, an deren Enden Aktentaschen in hässlichen Farben baumelten. Sie schaukelten unruhig wie Schiffe auf hoher See im aufkommenden Unwetter.
Ohne dass sie es geplant hatte, dachte Faye an eine Melodie, die ihr schon seit dem Morgen im Kopf herumspukte, und dazu kam ihr nun auch ein Text in den Sinn, zumindest die ersten Zeilen.
Plötzlich blieb sie stehen. Sie wusste, wie das enden würde. Sie würde sich am Abend nicht mehr richtig daran erinnern, und das würde ihr die Stimmung vermiesen.
Sie musste den Text aufschreiben!
Faye schaute sich um. Drüben, bei der winzigen Grünfläche, die irgendwie verloren zwischen einem Waschsalon lag und einem Imbiss, der Koscheres versprach, entdeckte sie einen Briefkasten. Okay, der sollte ihr genügen. Sie lief zu ihm hinüber, zog sich an ihm hoch und setzte sich obendrauf. Dann kramte sie einen zerknüllten Zettel aus dem Rucksack, strich ihn einigermaßen glatt, schnappte sich einen Bleistift und notierte den Text, der ihr eben eingefallen war. Sie summte leise eine Melodie dazu, ihre baumelnden Füße schlugen den Takt gegen die Mauer. Okay, sie würde beides, Melodie und Text, noch verändern müssen, aber es war ein Anfang, immerhin. Es war der Anfang eines Liedes, das den Titel »September on my tongue« tragen würde, so viel war klar. Eines Liedes, das von dem Sturm handeln würde, der in ihr toste. Eines Liedes, in dem es um einen Matrosen ging, der unterwegs war, irgendwo auf stürmischer See, und es kaum erwarten konnte, in den sicheren Hafen zurückzukehren, in dem das hübsche Mädchen, an das er sein Herz verloren hatte, auf ihn wartete.
Sie lächelte und dachte an Chicago
Weitere Kostenlose Bücher