Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
kompliziert werden.
»Allein dieser Name. Gisel-a!« Mica kehrte die Scherben zusammen. »Wie oft schon habe ich ihr gesagt, dass sie die Blumentöpfe anderswo aufstellen soll. Aber hört sie auf mich? Hört sie einmal in ihrem langen Leben zu?« Er wartete die Antwort gar nicht erst ab. »Nein, verdammt, das tut sie nicht.« Er warf lautstark einige der großen Scherben in den Eimer.
Gisela war eine deutsche Künstlerin, die im dritten Stock wohnte, hoch über dem Buchladen. Sie entwarf bunte Kleider und eine ganze Reihe höchst seltsamer Kunstgegenstände, die man nur deuten konnte, wenn man offen war für alles und ein sehr ausgeprägtes Verständnis für abstrakte Kunst hatte. Eine alte Dame mit locker hochgestecktem weißem Haar, die meistens weiße Gewänder trug. Sie roch nach Räucherstäbchen und war so mit sich selbst beschäftigt, dass die profanen Dinge des Lebens sie überhaupt nicht berührten.
Zu behaupten, dass Mica Sagong sie nicht mochte, wäre eine ziemlich heftige Untertreibung gewesen. »Sie sollte drüben in Williamsburg leben«, schimpfte er oft. »Da gehört sie hin. In eine dieser Kommunen.«
Gisela Zimmermann fielen, das musste man zugeben, recht oft Blumentöpfe vom Fensterbrett.
»Eines Tages verletzt sie noch einen Kunden«, befürchtete Mica Sagong.
»Ist sie zu Hause?«
»Natürlich ist sie zu Hause«, schimpfte er und warf die nächste Scherbe in den Eimer.
Faye hockte sich neben ihn auf den Boden und half beim Einsammeln.
»Heute hätte es beinah den Hund eines Kunden erwischt. Ein kleines, mageres Vieh, keine Ahnung, wie die Rasse heißt. Rattenhunde, du weißt, was ich meine.«
Faye nickte pflichtschuldig und unterdrückte ein Gähnen. In ihrem Kopf war gar kein Platz für eine andere Geschichte als die, in der sie gerade steckte.
»Der Blumentopf hat diesen Rattenhund haarscharf verfehlt.« Mica wirkte nicht gerade ausgeglichen. »Der Hundebesitzer – keine Ahnung, wie man sich als Mann einen solchen Hund kaufen kann, aber das geht mich ja nichts an – wollte ein dünnes Buch kaufen, etwas von Ethan Canin, aber dann war er so besorgt um das Tier, dass er gegangen ist, ohne etwas zu kaufen.« Er drückte Faye den Handfeger und die Schaufel in die Hand. »Hier, du kannst schon mal kehren, wenn du nicht zu müde dazu bist«, sagte er in dem Versuch, einen Teil seiner Wut bei Faye Archer abzuladen. »Und dann«, ging es sofort weiter, »kam Madam Gisela.« Bei ihm klang das A, als sei es etwas Ekliges, was man sich aus Versehen in den Mund gesteckt hatte. »Madam Gisel-a Zimmermann.« Er betonte den Nachnamen so, wie Michael Caine ihn womöglich in einem Woody-Allen-Film ausgesprochen hätte. »Sie kommt die Straße entlang, die Zeitung unter den Arm geklemmt, die Ruhe und Gelassenheit in Person, und ich spreche sie auf den Schlamassel an. Sie sieht mich nur an, wie ich gerade den Schmutz beseitige, und als ich sie darauf hinweise, dass es ja eigentlich nicht meine Aufgabe ist, ihren Dreck zusammenzukehren, weißt du, was sie da sagt?«
Faye ahnte, dass sie nichts Nettes gesagt hatte, oder zumindest nichts, was Mica gefallen hatte.
Wieder sah er wütend nach oben, doch da schaute niemand aus dem Fenster.
»Das ist Karma-Yoga«, zischte er. »Kannst du dir das vorstellen? Sie hat auf den Dreck gedeutet, gelächelt und gesagt: ›Sieh es einfach als Karma-Yoga.‹«
Faye kehrte derweil Erde und Scherben zusammen. »Vielleicht wollte sie nur witzig sein.«
»Ich tue gern Dinge für andere.« Mica funkelte sie an. »Karma-Yoga, pah! Ich kehre ihren Dreck auf. Das ist doch kein Karma-Yoga!«
Faye seufzte. Eigentlich flatterten ihr immer noch die Mails von letzter Nacht im Kopf herum. Sie hatte die Augen geöffnet, als die Sonnenstrahlen durch den Wipfel des Baums in ihr Zimmer gefallen waren, sie an der Nase gekitzelt und langsam in die Wirklichkeit zurückgelockt hatten. Dann hatte ein Blick auf den Wecker genügt, um sie aufspringen zu lassen. In der folgenden halben Stunde war alles wie im Zeitraffer abgelaufen, wie zu Melodien aus den frühen Stummfilmen.
Sie war vor dem Spiegel herumgehüpft, hatte alles, wozu sie sich sonst Zeit ließ, nun hektisch und kunstvoll chaotisch vollführt. »Du bist so was von Slapstick«, hatte sie ihrem unsortierten Spiegelbild gesagt, doch das Spiegelbild hatte sie nur verständnislos und übernächtigt angestarrt. Dann war sie hinaus in die Welt gegangen: durch die Straßen, die Farben, die Töne, die Sonne. Und jetzt war sie hier,
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