Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
Verdammt, in viel weniger als zwei Wochen, dachte Faye, und das war ein Gedanke, der sie dann doch ein wenig beunruhigte. Sie musste noch mehr als nur einen neuen Song vorweisen. Okay, okay, dann wäre »September on my tongue« eben nur der Anfang. »Brooklyn Waltz«, dachte sie spontan, wäre ein weiterer Titel, den sie schreiben könnte. Manchmal wunderte sie sich selbst, wie ihr Gehirn funktionierte.
»Du bist total verdreht«, hatte ihre Mutter einmal bemerkt, und im Gegensatz zu anderen, T. C., Cricket, Mica und Dana eingeschlossen, hatte sie es überhaupt nicht nett gemeint.
T. C. sagte: »J & J haben die Plakate schon gedruckt.«
Faye hob neugierig den Kopf. »Das wusste ich nicht.«
»Du hast noch keine Abzüge bekommen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich vertraue den beiden.«
Jermaine Lamond und John Babel waren die Inhaber der Cushion Factory. In ihrem Club in dem alten Fabrikgebäude hatten nicht wenige junge, unbekannte Künstler die ersten Schritte getan.
»Cricket, haben wir welche hinten?«
»Warte.« Cricket verschwand im Kabuff. Faye hörte sie lautstark kramen.
»Sie sehen gut aus, finde ich.«
»Hab sie!« Cricket kehrte mit einer Rolle Plakate zurück. Sie breitete sie auf der Theke aus. »Und?«
Ein DIN-A5-Plakat: Faye, sitzend vor einem Klavier. Sie trägt ein hautenges Kleid, schwarz-weiß, passend zum Titel des Konzerts, Holly Go! – Silent Movie Moments , und den weißen und schwarzen Tasten. Die Haare hochgesteckt, ihr Hals kommt zur Geltung, ihr Gesichtsausdruck ernst, verträumt, entrückt. Sie trägt eine schwarze Sonnenbrille, Sixties-Style. Verschlungene Muster bilden den Rahmen des Plakats.
Faye fragte sich, ob der Titel okay war. Nein, »okay« traf die Sache nicht richtig. Sie fragte sich, ob er die Zuschauer locken würde. Silent Movie Moments beschrieb ihr Programm sehr gut. Es gab so viele unbekannte Musiker und Bands in Brooklyn.
»Ich hänge es sofort auf.« Cricket schnappte sich eins und heftete es mit ein paar bunten Reißzwecken an die Pinnwand für Aktuelles.
»Die Tickets sind auch schon da.« T. C. zeigte ihr ein schmales Bündel gelber Karten. Er klopfte mit dem Finger darauf. »Die bringen wir schon unter die Leute, glaub mir.«
»Ich vertraue dir«, sagte Faye.
T. C. wickelte die Schallplatte in Zeitungspapier ein, behutsam, als handelte es sich um einen kostbaren Schatz.
»Ich schau mich noch ein wenig um«, sagte Faye, denn das tat sie immer, wenn sie hier war, und es gab kein Gefühl im Leben, das mit diesem verglichen werden konnte. Sie prüfte das Sortiment des Plattenladens, ging auf Entdeckungsreise, fragte sich bei den Alben, die geheimnisvolle Cover und verheißungsvolle Titel hatten, ob sie sich selbige leisten konnte, verglich die Preise, wägte ab, stellte Mutmaßungen an über die Musik, ging mit einigen der auserwählten Exemplare zur Theke, wo T. C. oder Cricket sie auf den Plattenteller legten und behutsam die Nadel aufs Vinyl setzten. Sie lauschte, suchte nach einer Entscheidung, ging zurück zu den Platten, suchte weiter, blätterte ganze Welten durch, blieb vielleicht irgendwann bei einem ganz bestimmten Album hängen, bei einem, das sie so bewegte und ansprach, dass sie es einfach haben musste.
Faye liebte diese Momente. Schon in Minnesota war die Musik ihre Zuflucht gewesen.
Ihr Vater hatte während der Arbeit immer Musik gehört, so laut, dass Faye, kam sie aus der Schule, schon von Weitem erahnen konnte, was er gerade tat. Wechselte er Reifen oder besserte er das Chassis eines Roadsters aus, dann hörte er Dylan, Young, Springsteen, Nelson oder Cash. Reparierte er einen Motor, waren es meistens Wagner, Mozart oder Korngold. Er hatte einen Plattenspieler in der Werkstatt stehen, ein uraltes Ding, noch älter als der Kofferplattenspieler, den Faye besaß. Fayes Mutter hatte es gehasst, wenn er so laut Musik hörte. »Die Leute reden schon über dich«, war nur eine der Befürchtungen, die sie gehegt hatte. »Lass sie!« war alles, was ihr Vater dazu gesagt hatte.
Faye seufzte.
Sie stand im LL, so weit fort von Minnesota, und dachte wieder an Redwood Falls, das niemals wirklich zu verschwinden schien.
»Brooklyn Waltz«, kam es ihr in den Sinn, könnte davon handeln. Von der Stadt und dem, was man mit hierherbringt.
Sie schaute gedankenverloren aus dem Fenster in den anbrechenden Abend. Draußen herrschte dichter Verkehr. Auf der Flatbush Avenue gab es wohl wieder Stau, vermutlich eine weitere Baustelle oder einen neuen
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