Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
konfrontiert mit einem wütenden Koreaner, und fragte sich ernsthaft, ob Gisela Zimmermann wusste, zu welchen Dingen ein wütender Shaolin fähig war.
»Karma-Yoga«, wiederholte Mica Sagong erneut, stand auf und ging in den Laden.
Faye warf einen Blick nach oben, wo jedenfalls keine Blumentöpfe mehr zu sehen waren und auch keine Gisela, nur eine halb nackte Schaufensterpuppe, die nach unten schaute, mit einem Zylinder, unter dem rotes Haar hervorquoll, und einer lila Federboa.
Sie kehrte den letzten Schmutz auf und ging dann ebenfalls nach drinnen in den Laden.
Mica saß hinter der Kasse und las Die tausend Herbste des Jacob de Zoet von David Mitchell.
»Du musst das, was du den Kunden empfiehlst, kennen«, pflegte er zu sagen.
Faye stellte Eimer, Schaufel und Feger an ihren Platz zurück.
»Karma-Yoga«, sagte sie.
Mica grummelte etwas und blieb in sein Buch vertieft.
»Weißt du was?«, fragte sie ihn.
Mica seufzte und schaute auf. »Was?«
»Mir geht es gut.« Sie grinste ihn an. Wippte von einem Bein aufs andere.
»Ich weiß«, sagte er nur.
»Wirklich?«
»Ich bin nicht blind.«
Natürlich war er nicht blind. Mica liebte es, sich selbst als wissend zu sehen. Oder zumindest genoss er es, sich so darzustellen, was, wie Faye bereits sehr früh herausgefunden hatte, mitnichten dasselbe war. Also beließ sie es dabei und begann mit ihrer Arbeit im Laden, heute rein mechanisch, während ihr eigentliches Ich auf Reisen war. Pakete mit neuen Büchern galt es auszupacken, die vielen neuen Bände waren einzusortieren. Hier und da las sie ein paar Zeilen. Mal verzog sie missbilligend das Gesicht, wenn der Klappentext voller Klischees war, doch insgesamt war der Herbst die Jahreszeit, zu der die Mehrzahl der Verlage ihre wichtigen Neuerscheinungen präsentierten, und das meiste von dem, was Mica geordert hatte, konnte sich sehen lassen. Als sie bei den Comics – Graphic Novels, verbesserte sie sich schnell selbst – angekommen war, musste sie unwillkürlich an Chicago denken, an den Zug, der jetzt unterwegs war, und die GraphiCon, die am nächsten Tag starten würde. Daran und an Alex Hobdon. Sie entsann sich der Skizzen, die ihr irgendwie so vertraut gewesen waren, und malte sich aus, wie die Version von Frühstück bei Tiffany , die es noch gar nicht gab, außer natürlich schon im Kopf des Zeichners, wohl aussehen würde. Sie rief sich all die Dinge ins Gedächtnis zurück, die sie einander in der letzten Nacht offenbart hatten. Es war einfach so passiert, wie Dinge manchmal passierten, seltsam und ehrlich, ohne sich vorher anzukündigen. Selbst hier, in der Stille des Real Books, hatte Faye das Gefühl, seine Stimme zu hören. Was irgendwie seltsam war, weil sie seine Stimme ja nur flüchtig aus dem Laden kannte. Also, wenn man so wollte, gar nicht richtig. Aber trotzdem stellte sie sich jeden Satz, den er geschrieben hatte, so vor, als hätte sie ihn leibhaftig gehört. Sie stellte sich Alex vor, wie er, leicht dösend und in den Tag blinzelnd, im Zug nach Chicago saß, das Skizzenbuch auf dem Schoß, hin und wieder ein paar Striche aufs Papier zaubernd, hier und da, Schatten, Licht und Andeutungen, so lange, bis ein Gesicht oder eine Straße oder ein Haus oder sonst was zu erkennen war. Faye lächelte bei diesem Gedanken, und lächelnd tänzelte sie von einem Regal zum anderen und tat ihre Arbeit.
»Das«, hörte sie Mica in die Stille ihrer Vorstellungen hinein sagen, »meinte ich mit Vaudeville.«
Faye blieb abrupt stehen. »Das hier?« Sie machte eine ihrer normalen Bewegungen, mit beiden Armen, und dabei neigte sie den Kopf ein wenig zur Seite.
»Ja.«
Kurz und einfach.
Sie machte ein ernstes Gesicht und legte sich ein Buch auf den Kopf. »Meinst du wirklich, dass das typisch ist für mich?« Sie balancierte das Buch und grinste dabei.
»Ja, und außerdem summst du fortwährend.«
»Ach ja?« Das überraschte sie.
»Eine nette Melodie«, sagte er. »Sehr beschwingt.«
Das Buch rutschte ihr vom Kopf, und sie fing es auf. »Vaudeville. Slapstick. Echt klasse. Hoffentlich bist du der Einzige, der mich so sieht.« Sie stellte das Buch ins Regal, wo es hingehörte.
»Keine Angst«, versicherte er ihr, »du hast das sehr gut unter Kontrolle.«
Sie verdrehte die Augen.
Ein Kunde betrat den Laden und steuerte auf Mica zu.
Faye nutzte den Moment, um sich nach hinten in die Ecke mit dem Brunnen zu verkrümeln. Sie sortierte eine Reihe von Krimis ein, dann stahl sie sich in den Raum hinter dem
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