Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
Diners einen Kaffee getrunken und dabei Musik gehört. Die Kopfhörer bewahren einen glücklicherweise vor unliebsamen Gesprächen und Kontakten.
Jetzt bin ich wieder hier im Abteil. Ich frage mich, was du gerade tust. Es ist jetzt Nachmittag.
Cleveland. Draußen ist es dunkel. Jetzt sehe ich nur mein eigenes Spiegelbild im Fenster, vielleicht noch ein paar vorbeiziehende Lichter. Es hat zu regnen begonnen. Wenn der Zug durch Bahnhöfe fährt, fliegen überall Blätter herum. Die Menschen schlagen die Kragen hoch und ziehen die Köpfe zwischen die Schultern. Es ist, als würde die Welt sich vor sich selbst verstecken wollen.
Zwanzig Minuten vor South Bend. Ich schaue mir schon wieder die Sachen für GM an, die Designentwürfe für die Werbeplakate, jetzt mit neuer Symbolik, neuem Slogan und so weiter. Bin gespannt, was sie davon halten werden. Welche Änderungswünsche sie noch haben, denn, glaub mir, die haben sie stets. Immer öfter habe ich das Gefühl, dass mich die Arbeit für SunMind davon abhält, die wirklich wichtigen Dinge zu sehen. Ich weiß, es liegt in meiner Hand, das zu ändern. Einen ersten Schritt in die richtige Richtung zu tun, dorthin, wo etwas Neues beginnen kann.
Das Bett ist nicht gerade bequem. Im Fenster sehe ich die Lichter der Schiffe auf dem Michigansee. Die letzte Stunde habe ich verschlafen. Wärst du jetzt hier im Zug, würde ich dich auf einen Kaffee einladen. Weißt du, ich bin wirklich gespannt. Es ist so schräg, nicht zu wissen, wie du aussiehst. Wie deine Stimme sich anhört. Na ja, und wie du dich bewegst. Ich liege hier in dem unbequemen Bett und schreibe jemandem, den ich gar nicht kenne. Echt abgedreht. Aber ein Moment, der bleiben wird. Ich weiß es.
Chicago. Ich bin da. WOW! Von hier sind es fünfhundert Meilen bis nach Redwood Falls. Kennst du Chicago? Bist du jemals hier gewesen? Fünfhundert Meilen, das ist ganz schön weit weg. NY noch weiter. Du musst eine endlos lange Zugfahrt hinter dich gebracht haben.
Ich packe mein Zeug zusammen. Gleich schalte ich das Netbook aus. Frage mich gerade, ob du das alles wirklich lesen wirst. Das ist jetzt einer der Momente, in denen ich alles dafür geben würde, deine Stimme hören zu können. Ein letztes Abspeichern.
Dearborn Street. Im Elk Grove Hotel. Ich bin müde, obwohl die Zugfahrt so ruhig gewesen ist. Todmüde. Ein Taxi hat mich durch dichten Verkehr hierhergebracht.
Im Bad riecht es nach Putzmittel, Zitrone. Das mag ich. Es erinnert mich an das Treppenhaus in Utica, bei meiner Großmutter. Morgen ist ein langer Tag. DER große Tag – oder auch nicht. Die GraphiCon findet im Lakeside Center statt, das ist gar nicht weit von hier. Von meinem Fenster aus sehe ich keinen Michigansee, nur viele andere Häuser, groß und grau. Denke, dass ich das alles jetzt losschicke. Erwarte also deine Mail J . Alex
Er hat an mich gedacht und sich nicht von Rita, dem Hippiemädchen, anmachen lassen, dachte sie. Seine Freundin zu Hause. Keine billige Ausrede, sondern eine schöne Lüge, die ihr gefiel.
Sie las den letzten Satz erneut und ertappte sich dabei, grinsend das Smiley zu betrachten.
Völlig infantil, dachte sie. Lächelte aber trotzdem weiter. Du weißt nicht mal, ob er dir einen Bären aufbindet und in Wirklichkeit heute mit dem Motorroller durch Brooklyn und Williamsburg gefahren ist. Egal! Ein Gefühl sagt mir, dass er nicht lügt. Pah! Ein Gefühl. Sie schaltete den Laptop aus, stöpselte ihn ans Ladegerät, ließ ihn auf dem Boden neben der Couch stehen, rollte sich zusammen, mitten in all den Decken, und mit Gedanken, die viel zu durcheinander waren, um sie zu dieser nachtstillen Stunde noch zu denken, schlief sie schließlich ein.
6
Am nächsten Morgen erwachte Faye Archer, obwohl der Wecker klingelte, mit einem Lächeln. Ihr Kopf war randvoll mit Alex Hobdon. Sie sah Bahngleise vor sich, Reisende auf Bahnhöfen, Comicbilder, die wie Kalenderblätter in einer Filmmontage zu Boden flatterten. Sie streckte sich, gähnte, war schneller als sonst in der Wirklichkeit zurück. Im Radio lief ein Lied von Aimee Mann, ein guter Start in den Tag.
»Hallo Morgen«, murmelte Faye, und dann tänzelte sie summend ins Bad und zurück durch die Wohnung. Sie schnappte sich den Laptop und schrieb eine kurze Nachricht.
Holly_Go!
Hi Alex, ganz schnell, vor der Arbeit, ein RIESENgroßes Dankeschön für all deine Gedanken, die du mir geschickt hast. Toi, toi, toi für den Tag. Faye
Sie wirbelte mit einem Grinsen durch den
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