Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
sind ganz heiß auf die neuen Entwürfe.« Das war der letzte Anruf kurz vor der Abreise.
»Weiß ich.« Ich hasse es, wenn mich Josh aus der Grafik anruft. Das ist nie gut.
»Die haben ihren Slogan geändert. Und die Symbolik.«
»Super.«
»Du hast alles in der Mail. Bau die Änderungen ein, bevor du zu ihnen gehst, okay?«
»Okay.«
SunMind ist eine Firma, die schnell wächst. Es gibt so viel zu tun. Niemand hat mehr wirklich Zeit. Wir reagieren, aber keiner denkt mehr nach. Ich habe mich bewusst für diese neunzehn Stunden Auszeit entschieden. Offline, keine Anrufe. Nur die Stille, der Viewliner und ich. Die Gedanken. Zeichnungen. Ja, viele Zeichnungen. Heute habe ich mein Skizzenbuch nicht vergessen.
Was ich gehört habe: »The Saddest Song« von Adrian Crowley. »Snow« von Tracey Thorn. »The Fling« von Wanderingfoot. »Maybe you« von Andy Burrows. Ein paarmal.
Irgendwo zwischen Little Falls und Utica: Draußen fließt der Mohawk River vorbei. Meine Großmutter hat diese Gegend geliebt. Sie ist wirklich alt geworden. Einundneunzig Jahre. Wow. Kannst du dir vorstellen, so alt zu werden? Als Zahl: 91! Am Ende, als sie krank wurde, sagte sie mir, dass man im Alter nur seine Erinnerungen hat. »Das, was gerade passiert«, hat sie gesagt, »ist unwichtig. Man denkt nur noch an das, was man einmal erlebt hat. An die schönen Erinnerungen. Ja, diese schönen Erinnerungen sind es, die einem bleiben. Erinnerungen an Momente.« Ich weiß noch genau, wie sie mich angesehen hat. Auf einem Auge war sie blind am Ende, es war milchig und trüb. Aber das andere war noch so blau wie früher, als sie ein Mädchen war, auf der Farm in Ohio, die sie später verlassen hatte. »Du musst viel erleben«, hat sie mir damals gesagt, »denn darauf kommt es an. Am Ende bleiben dir nur die Erinnerungen an die Momente, die du erlebt hast.«
Vielleicht schreibe ich deswegen. Weil dies hier ein schöner Moment ist. Ich sitze in dem Zug, der mich nach Westen bringt, und denke an dich und lasse dich an all diesen Dingen teilhaben. Obwohl ich dich doch kaum kenne. Aber ich weiß, dass dies einer der Momente ist, an die ich mich später gern erinnern werde, weil es einer der Momente ist, die das Leben zu etwas ganz Besonderem machen.
Meine Großmutter ist vor acht Jahren gestorben. Kaum zu glauben, dass das schon so lange her ist. Wenn ich an meine Familie denke, dann denke ich an sie. Nicht an meine Mutter, nicht an meinen Vater, nein, nur an sie. An ihre Energie, den Starrsinn, den Streit, den sie mit meinen Eltern hatte. An den Geruch ihres Hauses in Utica, wo sie am Ende gelebt hat.
Schweife ich ab? Kann gut sein.
Syracuse. Habe das Buch Frühstück bei Tiffany erneut gelesen. Na ja, teilweise zumindest. Überall in meiner alten Taschenbuchausgabe kleben Zettel, der Text ist übersät mit Anmerkungen. Versuche, mich so weit wie möglich von dem Film zu entfernen. Der Film ist zu sehr Hollywood. Die Musik mag ich trotzdem; und Audrey Hepburn wird immer Holly Golightly sein, ganz klar. Der Rest aber ist Hollywood. Und meine Zeichnungen sollten das nicht sein. Mein Erzähler sieht nicht aus wie George Peppard, und Holly könnte aussehen wie du … Dabei weiß ich gar nicht, wie du aussiehst. Ich kenne ja nur dein Profilbild mit der Sonnenbrille. Hast du mich gesehen? Wie stellst du dir mich vor? Ist das nicht irre? Sich so kennenzulernen. Wenn wir uns treffen, und ich hoffe, du hast noch die Absicht, das zu tun, dann ist das ein richtiges Blind Date. Hatte ich noch nie. Und du?
Zwischen Rochester und Buffalo geschlafen. Seltsame Träume gehabt, an die ich mich nicht erinnern kann. Haben sich aber nicht gut angefühlt. Habe mir ein Mittagessen bestellt. Berkshire Steak, das stand auf der Speisekarte. War unerwartet lecker.
Bin ein wenig durch den Zug gewandert. Einmal vorwärts, einmal zurück zum Abteil, das irgendwo am Ende des Zuges liegt. Es ist unglaublich, wie lang dieser Zug ist.
Im Diner saß Rita mit einem Rucksack-Studenten am Tisch. Flanellhemd, dichter Vollbart, nett.
»Hi«, sagte sie, als sie mich erkannte, und hob dabei die Hand.
»Hallo«, erwiderte ich.
»Das ist Eddie.«
»Hi, Eddie.«
»Das ist Jessie«, stellte sie mich ihm vor.
»Hi, Jessie«, sagte Eddie.
Ich fragte mich, ob sie nur meinen Namen vergessen hatte. Der Rucksack-Student – Eddie? – schien von ihr sehr angetan zu sein. Gut so. Schön. Sie sah jetzt glücklicher aus, wenn auch nicht unbedingt nüchterner.
Ich habe am anderen Ende des
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