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Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)

Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)

Titel: Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Schwierig, schwierig. Wer beantwortet diese Frage schon gern mit einem Ja. Ich wohne in Brooklyn, habe meinen Freundeskreis. Die Arbeit bei SunMind ist okay. Alles bestens, alles cool. Kein Grund zur Besorgnis, oder? Und doch stelle ich mir gerade jetzt die Frage, groß und neonhell: Bin ich heimatlos? Wie sehen andere mich, wenn ich auf dem Bahnsteig stehe? Habe ich etwa den gleichen Ausdruck in den Augen wie die Menschen, die mir gerade auffallen? Seltsame Gedanken. Vielleicht sollte ich einfach mit dem Zeichnen beginnen, das hilft meistens. Oder ich sollte wieder schlafen. Ja, schlafen klingt gut. Wie war das letzte Nacht? Nur zwei Stunden?
    Ich öffne die Augen und sehe … dichte Wälder, durch die der Zug sich quält, bergauf. Wenn man nach draußen schaut, kann man erahnen, wie Amerika den Menschen wohl früher erschien.
    Vorhin habe ich mein Abteil verlassen und bin durch den Zug gewandert, um mir die Beine zu vertreten. Keine Ahnung, wie lang der Zug ist, aber es hat eine Weile gedauert, von einem Ende zum anderen zu laufen. Auf dem Rückweg zum Abteil bin ich jemandem über den Weg gelaufen. Sie war hübsch, ein Hippie, sah mich an und fragte: »Kennen wir uns?«
    Ich fühlte mich überrumpelt. »Nein.«
    Sie trug Ohrringe, die sehr groß waren und wie Erdbeeren aussahen. »Wohin geht deine Reise?«
    »Chicago.«
    Sie sagte: »Denver.«
    Wir standen auf dem Gang. Ich sagte nur: »Oh.«
    »Was tust du da? In Chicago, meine ich.«
    »Geschäftsreise.«
    Sie blickte mich aus großen Augen an und drehte sich zur Seite, um mir Platz zu machen. »In Denver gibt es ein Theater, da zieht es mich hin. Kostüme schneidern. Ich bin Schneiderin.«
    »Klingt interessant.«
    Ich drückte mich an ihr vorbei, doch bevor ich verschwinden konnte, sagte sie: »Lass uns einen Kaffee trinken, drüben im Diner. Du siehst echt nett aus, und mir ist langweilig.« Sie schaukelte hin und her, als hörte sie Musik, und grinste. Beides, die Bewegung und das Grinsen, wären gut zu zeichnen.«
    Ich sagte: »Okay.«
    Also folgte ich ihr ins Diner. Ihre Haare waren eine Wildnis, definitiv schwer zu skizzieren. Sie bestellte einen Black Russian II., ich einen Kaffee. Sie erzählte mir von ihrem Freund, den sie vor wenigen Tagen verlassen hatte. »Freiheit«, seufzte sie, rekelte sich genüsslich auf ihrem Sitz, lächelte und fragte mich: »Fühlst du dich frei?«
    Ich sagte: »Ja.«
    »Ehrlich?«
    Ich nickte.
    »Das ist gut.« Sie erzählte mir von dem Theater in Denver und der Bedeutung des Neuanfangs. Ich beobachtete ihre Bewegungen, wie ich das immer tue, denn nur so lernt man, Bewegungen richtig zu zeichnen. »Liebe sollte frei sein. Ohne Freiheit gibt es keine Liebe.« Sie hieß Rita, aber ihr neuer Name, meinte sie, sei Amodini. »Das heißt ›glückliches Mädchen‹, ist das nicht echt irre?« Sie redete unentwegt und sah mich dabei an, als wüsste sie etwas, wovon ich noch nichts ahnte. »Vielleicht ist es Karma, dass wir uns hier getroffen haben.« Sie schaute mich erwartungsvoll an. »Was glaubst du?«
    Keine Ahnung, was ich ihr erzählt habe. Irgendetwas Esoterisches, wovon ich glaubte, dass sie es hören wollte. Doch eigentlich wollte nur sie reden, von ihrer verflossenen Beziehung und all den Verwicklungen, die es gegeben hatte. Es war eine dieser Begegnungen, die man oft auf Reisen hat. Jemand möchte, dass ihm jemand zuhört. Und bei Rita, aka Amodini, dem glücklichen Mädchen, war ich der Zuhörer. Das passiert mir übrigens öfter. Keine Ahnung, warum. Ich finde nicht, dass ich so wahnsinnig verständnisvoll wirke.
    Warum ich dir davon erzähle? Nun, es klingt ein wenig seltsam, aber … ich habe gelogen. Schnell und spontan, wie einem Lügen manchmal über die Lippen kommen.
    Ich hatte mich gerade erhoben und mich von ihr verabschiedet, als sie meine Hand ergriff und fragte: »Sehe ich dich später wieder? Es dauert noch ein wenig, bis wir in Chicago sind.«
    »Ich glaube nicht, dass wir uns wiedersehen.«
    Sie musterte mich wachsam und enttäuscht zugleich. »Wartet irgendwo eine Frau auf dich?« Sie ließ meine Hand los. »Einen Ring trägst du jedenfalls nicht.«
    »Eine Freundin«, sagte ich.
    Sie ließ nicht locker. »Hier im Zug?«
    »Nein, nicht hier, zu Hause.«
    »Wo ist ›zu Hause‹?«
    »Brooklyn.«
    »Das ist weit weg.«
    Ich entgegnete: »Nein, ist es nicht.«
    Sie machte ein enttäuschtes Gesicht, nippte an ihrem zweiten Black Russian II. »Und deine Freundin? Was macht sie so?«
    »Sie ist Sängerin.

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