Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
Und Buchhändlerin.«
Die Frau nickte. »Offenbar hat sie mehr Glück als ich.«
»Tja«, sagte ich.
Rita sah mich einen Moment an, ehe sie ganz schnell erneut meine Hand ergriff. »Das«, flüsterte sie, und ihr Atem roch nach Alkohol und der Bereitschaft, alles Mögliche zu tun, »das ist Karma.« Sie beugte sich näher zu mir. »Deine Freundin ist bei dir.« Sie deutete den Gang hinab. »Irgendwo da hinten«, murmelte sie, dann deutete sie in Fahrtrichtung, »oder irgendwo da vorn.« Sie lächelte und gluckste. »Aber niemals ganz fort.«
Damit trennten sich unsere Wege. Jetzt bin ich wieder im Abteil. So viel zu meiner flüchtigen Reisebekanntschaft.
Draußen rauscht Pittsfield vorbei: Herman Melville hat damals hier gelebt. Ich sollte aussteigen und durch die Straßen der Stadt wandern. Einfach nur, um zu sehen, wie der Ort aussieht, an dem jemand wie Melville seinen berühmten Roman geschrieben hat. Bob Dylan tut genau das. Er schleicht durch die Gegend und schaut sich die Häuser von Musikern an. Das Haus, in dem Neil Young seine Kindheit verbracht hat; die Schule, die Johnny Cash besucht hat. Die Quelle der Mythen zu finden, darum geht es wohl. Herauszufinden, was wirklich wichtig ist und was einen zu einem anderen Menschen macht. Schon irre, was die Leute alles so tun.
Heute Morgen, kurz vor der Abreise, habe ich nach Musik von dir gesucht, aber nichts gefunden. Das erwähnte ich schon, nicht wahr? Hey, wo finde ich dich? Bin sehr gespannt auf deine Lieder. Musik ist so viel direkter als alle anderen Arten von Kunst. Eigentlich ist Musik die einzig wahre Kunst. Diejenige, die direkt ins Herz trifft. WOOOSH! Einfach so. Wenn du schreibst, musst du dir all die Wörter einfallen lassen, Sätze konstruieren. Wenn du zeichnest, kommt es auf so vieles an. Du musst die Leser langsam bei der Hand nehmen und in einen Raum führen, in dem du ihnen die Gefühle und Dinge zeigen kannst, die du ihnen zeigen möchtest. Aber Musik … KA-WOOM! Musik ist das Wundermittel. Du brauchst nur wenige Töne. Eine Melodie kann mehr sagen als Hunderte von Seiten voller Wörter, mehr spüren lassen als alle Bilder dieser Welt. Es gibt so viele Dinge, die ich gern können würde. Ein Instrument spielen gehört dazu. Als kleines Kind wollte ich immer sein wie Bruce Springsteen. Hey, wer wollte das nicht?! Ich habe aber nie Gitarre spielen gelernt …
Eine andere Ausbildung war meinen Eltern wichtiger. Musik hatte da nichts verloren; Comics schon gar nicht. Erwähnte ich die Privatschule mit den Bret-Easton-Ellis-Typen? Wann immer ich daran denken muss, wird mir speiübel. St. John’s Academy. Wir hatten kleine Holzbänke, uralt und dunkel. Man konnte sie aufklappen und seine Utensilien darin verstauen. Für jeden Schüler gab es eine eigene Bank. Auf meiner hatte jemand namens Jeff eine Nachricht hinterlassen. Jeff war hier, 1865. Kannst du dir das vorstellen? 1865! Ist das nicht irre? In der Aula standen all diese Vitrinen mit den Bildern der alten Jahrgänge. All diese Gesichter, das war gruselig, ja, richtiggehend gruselig. Man konnte die Träume in den Augen erkennen, die Angst vor den Eltern, die Engstirnigkeit, die Furcht zu versagen. Sie wurden Geschäftsleute, lenkten die Geschicke der Firmen ihrer Eltern, traten in die Fußstapfen ihrer Ahnen, egal, ob sie das von Herzen wollten oder nicht. Die Gewissheit, dass sich in all den Jahrzehnten nichts wirklich geändert hatte, war erschreckend. Weißt du, ich konnte nach einiger Zeit nicht mehr richtig atmen. Es fühlte sich an, als würde mir jemand die Kehle zuschnüren. Die Gesichter auf den Jahrgangsfotos gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie viele von ihnen hatten den Mut gehabt, ihre Träume zu verwirklichen? Wie vielen war das am Ende gelungen? Wir mussten Krawatten tragen und Uniformen, Jacketts mit dem eleganten Emblem der Schule, alles Tradition. Sehr schick, so verdammt elitär. Jeff hatte 1865 bestimmt auch seinen Vater gehasst. Viele von uns taten das, ist das nicht krank? Ich habe ihn in einem alten Jahrbuch gefunden, Jeff, meine ich. Ein sportlicher Typ, Kapitän der Rudermannschaft. Er hat gelächelt, aber nicht mit den Augen. Viele Jungs auf den Fotos haben gelächelt, aber nie mit den Augen. Deswegen habe ich den Zug nach New York genommen. Aber davon habe ich ja schon geschrieben.
Ich habe Angst davor, dass mein Gesicht irgendwann doch noch so aussieht wie diejenigen in den Vitrinen. Andauernd hetzt man von einem Termin zum nächsten.
»Die GM-Jungs
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