Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
erscheint –, schließe die Augen und bete.
»John … Pater Daniels …«
Die Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
Ich öffne die Augen.
Es ist Korporal Rossi.
»Marco …«
Rossi hat Tränen in den Augen.
»Kann ich Sie sprechen?«
»Natürlich.«
Ich erwarte, dass er sich setzt. Stattdessen kniet er vor mir.
»Ich wollte sagen … Vielleicht sterben wir heute alle.«
»Gottschall ist vom Gegenteil überzeugt.«
Rossi winkt abfällig.
»Er ist ein Lügner und würde die Wahrheit nicht einmal dann erkennen, wenn sie ihn in den Arsch beißt.«
Ich lächele unwillkürlich.
»Ich wollte Ihnen sagen, dass ich nie ein guter Christ gewesen bin. Ich meine … Verdammt, es ist schwer zu glauben, wenn man in einer Welt wie dieser lebt. Für euch, die ihr vorher geboren seid, ist es vielleicht anders.«
»Das könnte sein.«
»Was ich meine … Nun, ich bin nicht immer ein treuer Soldat der Kirche gewesen. Im Namen Gottes habe ich Dinge getan, die … Dinge, von denen ich nicht gedacht hätte, dass ich sie einmal tun würde.«
»Ich nehme an, du hast sie für eine gute Sache getan.«
Rossi schneidet eine Grimasse.
»Sprechen wir nicht über die Kirche, sondern über mich. Vom Danach . Glauben Sie wirklich, dass es ein Paradies gibt für jene, die sterben? Und eine Hölle?«
Ich seufze. »Ich neige sehr dazu, an die Existenz eines Paradieses zu glauben. An die Hölle glaube ich viel weniger. Sie erscheint mir banal und armselig, unter Gottes Würde.«
Rossi nickt.
Mir fällt ein, dass ich ihn während der bisherigen Reise kaum bemerkt habe. Er und Greppi haben die meiste Zeit über geschwiegen und sind kaum aufgefallen.
»Wenn es ein Paradies gibt, Pater … Dann hätte ich gern die Möglichkeit, es zu erreichen.«
»Wie kann ich dir helfen?«
»Ich möchte beichten. Aber vorher habe ich noch eine Frage.«
»Heraus damit.«
»Nun … äh … Eigentlich ist es eine ziemlich dumme Frage.«
»Stell sie trotzdem.«
»Könnten Sie mir beschreiben, wie es war, mit der Playstation zu spielen?«
Damit habe ich gewiss nicht gerechnet. Unterwegs durch die Ödnis, zu der die Welt geworden ist, habe ich nicht nur an die Milliarden Menschen gedacht, die am Tag des Leids oder an seinen Folgen starben, sondern auch an die vielen toten elektronischen Geräte. An die Stille der Spielkonsolen, Computer und Mobiltelefone, die damals maßgeblichen Einfluss auf unser Leben hatten.
Und so bete ich nicht, sondern erzähle Marco Rossi – diesem jungen Mann von zwanzig Jahren mit Akne im Gesicht und dem Grad eines Korporals –, wie es war, mit Elfen und Rittern zu spielen, Drachen zu töten und an Formel-1-Rennen teilzunehmen. Er hört mir zu, den staunenden Blick in die Ferne gerichtet, und für einige Minuten scheint die alte Zeit zurückzukehren, das Licht und die Wärme einer Welt, in der sich die Zukunft nicht mit einem Geigerzähler messen lässt.
Schließlich lächelt Rossi.
Und beichtet.
Er hat nicht viele Sünden begangen, aber manche von ihnen sind grauenhaft. Zweifellos eine schwere Bürde für so junge Schultern.
Ich höre ihm zu und erteile ihm Absolution. Dabei komme ich mir scheinheilig vor, denn einen großen Teil der gebeichteten Sünden habe ich selbst begangen, in den Diensten meiner Kirche.
Als wir fertig sind, erhebt sich Rossi und setzt seine Mütze mit den Rangabzeichen auf.
»Wenn ich heute sterben sollte, Pater … Sprechen Sie dann ein Gebet für mich?«
»Natürlich. Aber du stirbst heute nicht.«
Er beißt sich auf die Lippen. »In Ordnung.«
Dann kehrt er zu den anderen Soldaten zurück.
Ich wusste nicht, was ich mir unter der »Festung von Rimini« vorstellen sollte, wie Gottschall sie nennt.
Bestimmt nicht das, was wir vor uns haben.
Die sogenannte Festung ist in Wirklichkeit ein modernes Gebäude, rund und mehrstöckig, umgeben von mehreren improvisiert wirkenden Wachtürmen.
Davor bemerke ich etwas, das vermutlich einmal eine Anlegestelle für Boote gewesen ist. Doch das Meer hat sich zurückgezogen, und aus dem alles bedeckenden Schnee ragen die schiefen Masten von Segelschiffen, die seit zwanzig Jahren vor sich hin rotten.
Hinter dem Gebäude erstreckt sich eine weiße Wüste bis zum Horizont. Der Nebel, der uns bis hier verborgen hat, hebt sich und schützt uns nicht länger. Wir verstecken uns hinter einer niedrigen Mauer.
Es ist nicht leicht, die »Festung« zu erreichen.
Kaum hat uns der Lastwagen am Stadtrand abgesetzt, als sich der Nebel aufzulösen
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