Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
geradezu unendlich zu sein. Wir sammelten Muscheln und vom Meer bearbeitete Holzstücke. Einmal entdeckte mein jüngerer Bruder Thomas etwas, das ihm einen Freudenschrei entlockte. Er zeigte seinen Fund Vater – es schien ein großer Smaragd zu sein. Ich erinnere mich an den Glanz des Objekts, und an meinen Neid. Vater erklärte Thomas geduldig, dass es sich nicht um einen Smaragd handelte, sondern um ein Stück vom Boden einer Flasche, beziehungsweise vom »Hintern einer Flasche«, wie er sich ausdrückte.
Auch diese vom Meer hinterlassene Wüste aus Sand und Schlamm hat ihre Schätze. Wir kommen an den Resten eines alten Schiffes vorbei, und darin fallen mir rostige Metallstücke auf. Stammen sie vielleicht von einem Schwert? Oder nur von einer Bierdose? Wer kann das jetzt noch sagen?
Wir wandern, und der Schnee schluckt unsere Schritte. Unsere Fußabdrücke bilden eine lange Spur, als wir dem Verlauf der Brücke folgen, die in der Mitte eingestürzt ist. Eigentlich sind es zwei Brücken, die nebeneinander verlaufen, aber so nahe, dass sie wie eine aussehen. Beiden fehlt ein großes Stück in der Mitte.
Als uns nur noch etwa hundert Meter von der eingestürzten Stelle trennen, sehe ich den Grund dafür, warum beide Brücken betroffen sind. Ein Flugzeug ist dort abgestürzt. Die Trümmer sind noch zwischen den Betonbrocken zu erkennen. Selbst nach zwanzig Jahren ist es Rost und Salz nicht gelungen, die Farben der französischen Flagge vom Heckteil zu tilgen.
»Wenn wir fliegen könnten, würde ich dir zeigen, wo andere Flugzeuge abgestürzt sind. Insgesamt sieben. Sie haben große Krater im Sand hinterlassen. Der Flughafen von Venedig befindet sich dort drüben. Einige Maschinen sind wegen des elektromagnetischen Impulses vom Himmel gefallen, aber andere müssen über der Lagune im Kreis geflogen sein, bis ihnen der Sprit ausging. Auf der Start- und Landebahn des Flughafens standen Dutzende von gelandeten Flugzeugen; es konnte niemand mehr landen.«
Ich wende den Blick von den Trümmern ab und vermeide es, an die Männer, Frauen und Kinder an Bord zu denken. Eigentlich, wenn man’s genau nimmt, haben sie sogar Glück gehabt. In den ersten Jahren nach dem Tag des Leids haben Krankheiten und Hunger mehr Menschen umgebracht als die Bomben.
Alessia hat sich wieder die Kapuze über den Kopf gezogen. Von hinten gesehen wirkt sie in ihrem blauen Mantel wie eine legendäre Gestalt, wie eine Elfenprinzessin.
Es fällt mir nicht schwer, mit ihr Schritt zu halten. Ich überlege, wie alt sie sein mag. Sie scheint so jung zu sein, und doch … In ihren Augen liegt die Tiefe von alter Weisheit.
Seit ewigen Zeiten habe ich keine so schöne Frau gesehen.
Ich weiß, dass ich so etwas nicht denken sollte, aber ich kann nicht anders.
Alessia ist ein unglaubliches Geschöpf.
Ich hätte sie gern gefragt, wie sie es geschafft hat, mir im Traum zu erscheinen, aber ich weiß schon, dass mich ihre Antwort nicht befriedigen würde. So begnüge ich mich damit, hinter ihr zu gehen. Den Versuch, an ihre Seite zu gelangen, habe ich aufgegeben. Ganz gleich, wie lang oder schnell meine Schritte werden – der Abstand zwischen uns bleibt derselbe.
Nach und nach wird die Stadt vor uns größer.
Wir kommen an weiteren Wracks vorbei, sie werden immer häufiger. Kähne aus Holz, Motorboote, sogar eine Gondel mit vergoldetem Bug. Wie ein toter Delphin liegt sie da.
Die Stille um uns herum hat etwas Irreales.
Ich kann mir kaum vorstellen, dass hier einmal Vögel gezwitschert und Insekten gesummt haben, dass hier einmal alles voller Leben war.
Jetzt gibt es hier kein Leben mehr.
Ich erinnere mich daran, dass sich die Erde in einen gewaltigen Friedhof verwandelt hat.
»Was ist mit den drei Männern passiert, die bei mir waren?«, frage ich Alessia und hebe dabei die Stimme, um das Heulen des stärker gewordenen Winds zu übertönen. Die Stadt liegt wie hinter einer grauweißen Mauer. Ich schätze, dass die Böen eine Geschwindigkeit von mindestens fünfzig Meilen die Stunde erreichen. Aber obwohl ich sie an mir zerren spüre, fühle ich weder Kälte noch Schmerz.
»Warum fragst du nach ihnen?«, erwidert Alessia.
»Sie haben von einer anderen Mission gesprochen. Und sie führen etwas bei sich, das vielleicht eine schreckliche Waffe ist.«
»Ich dachte, ihr hättet genug von schrecklichen Waffen.«
Ich bin mir nicht sicher, wie diese Worte gemeint sind.
»Denk nicht an sie«, fügt Alessia rasch hinzu und macht eine seltsame
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