Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
dort.«
Ich finde sie ordentlich zusammengefaltet auf einer anderen Ablage: eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und eine Weste schwarz wie die Hose, aber mit Goldfäden durchwirkt, die ein geometrisches Muster bilden, eine Art Mandala.
Unterwäsche fehlt.
Und die Sachen haben keine Knöpfe, sondern Haken und Ösen. Ich hantiere ein bisschen damit herum, bis alles richtig sitzt. Statt eines Gürtels hat die Hose eine Schnur, die man verknüpfen muss, früher die Sportanzüge.
»Bist du fertig? Kann ich mich umdrehen?«
»Ja.«
»Du bist richtig elegant. Die Schuhe stehen dort.«
Es sind Mokassins aus schwarzem Stoff. Die Sohle besteht aus dem Gummi eines alten Autoreifens.
Alessia beobachtet mich zufrieden.
»Alles in Ordnung? Dann lass uns gehen.«
Sie streicht einen dunklen Vorhang beiseite, hinter dem sich ein kurzer Korridor erstreckt. Er führt zu einem weiteren runden Zimmer, allerdings größer als das, in dem ich erwacht bin. Von dort aus geht es erneut durch einen Korridor zu einem dritten runden Raum, und so weiter. Die Katakomben des Neuen Vatikans sind mir oft eng und unübersichtlich erschienen, aber dieses Labyrinth aus Zimmern und Gängen komm t mir noch viel verwirrender vor.
»Dieser Ort ist sehr seltsam«, sage ich. »Warum sind die Räume rund? Das dürfte wohl kaum sehr praktisch sein.«
»Oh, es sind keine Zimmer, sondern alte Zisternen. Diese Stadt wurde in Salzwasser errichtet. Artesische Brunnen sind immer eine Seltenheit gewesen. Bis zum Bau der Wasserleitung im neunzehnten Jahrhundert stellten solche Zisternen die Versorgung mit Trinkwasser sicher; darin sammelte sich das Regenwasser. Es existierten Tausende von ihnen. Eine Zählung im Jahr 1857 ergab hundertachtzig öffentliche und über sechstausend private. Nur die ärmeren Häuser hatten keine. Sieh nur.«
Alessia hält plötzlich ein Blatt in der Hand, das den Eindruck erweckt, aus einem Atlas zu stammen.
»Siehst du?«, sagt sie. »Venedig hat die Form eines Fisches.«
Das stimmt. Ich erkenne den Fisch, seinen Körper, den Schwanz, sogar ein Auge, beim helleren Bereich des Bahnhofs.
Die graue Karte der Stadt ist von roten Punkten durchsetzt. Einige von ihnen sind groß, andere klein. Manchmal sind sie so dicht beieinander, dass der ganze Bereich rot erscheint.
»Das ist eine Karte der Zisternen von Venedig.«
»Unglaublich.« Ich schüttele den Kopf.
»Sie sind unterschiedlich groß, wie man diesem Maßstab entnehmen kann. Es gab sehr kleine und auch wahre Riesen. Die Zisterne des Klosters San Giovanni e Paolo, auch San Zanipolo genannt, hatte eine Oberfläche von 2500 Quadratmetern. Nach dem Bau der Wasserleitung im Jahr 1884 wurden fast alle Zisternen aufgegeben, aber es gibt sie nach wie vor, unter knapp zehn Prozent der Stadtfläche. Man brauchte sie nur miteinander zu verbinden, und schon standen zahlreiche geschützte Wohnräume zur Verfügung. Außerdem haben wir die alten Brunnen wieder in Betrieb genommen. Man hat sie damals mit den primitiven Werkzeugen gebohrt, auf die wir auch heute zurückgreifen können.«
Vor einer Holztür angekommen, nimmt Alessia ein Halsband ab, an dem ein großer Schlüssel aus Bronze hängt. Sie steckt ihn ins Schloss und öffnet die Tür.
Licht und kalte Luft strömen mir entgegen.
»So kann ich nicht nach draußen! Ich würde erfrieren! Und auch du bist viel zu leicht angezogen.«
Alessia lacht. Sie gibt mir eine schwarze Maske mit einem seltsamen langen Schnabel. »›Fürchte nicht mehr Sonnenglut, noch des Winters grimmen Hohn …‹«
»Das ist Dichtkunst. Dies ist die Realität.«
Doch die junge Frau hört nicht auf mich. Sie ignoriert meine Einwände und klettert eine Strickleiter hinab – wir befinden uns etwa vier Meter über dem Grund eines ausgetrockneten Kanals.
Schließlich gebe ich mir einen Ruck und folge Alessia nach unten.
Die Sicht ist heute weitaus besser. Ganz unten im Kanal kriechen Nebelschwaden über den Boden, aber ab einer Höhe von anderthalb Metern ist die Luft klar, bis hinauf zur immer präsenten grauen Wolkendecke. Ich setze Maske und Dreispitz auf und bin für eine weitere Wanderung bereit.
Die Luft, die ich durch den sonderbaren Schnabel der Maske atme, ist dicht und hat einen aromatischen Geruch, mit einer Andeutung von Salz. Es ist ein merkwürdiger Geruch, aber nicht unangenehm.
Wie seltsam es ist, am helllichten Tag unterwegs zu sein, im Regen des unsichtbaren Todes, der auf uns niedergeht, und »kein Unglück zu fürchten«, wie es
Weitere Kostenlose Bücher