Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
steckt, um aufzustehen.
Dennoch erhebe ich mich.
»Bist du einverstanden?«, fragt die Frau in Blau.
Ich muss lachen, ich kann nicht anders, und mit dem Lachen sage ich: »Ja.«
Kaum habe ich dieses eine Wort gesprochen, diese eine Silbe, da verändert sich die ganze Welt.
Neue Energie strömt in mich, füllt mich wie eine Flüssigkeit.
Ich werde zu einem Behälter aus Energie und Licht.
Alessia lächelt.
Sie geht voraus und führt mich durch den blauen Korridor. Wir durchqueren die Kathedrale, ohne auf den Boden zu blicken, denn wir fliegen jetzt. Es ist absurd, aber wir fliegen. Als bestünde sie nur aus Luft, schweben wir durch die Fahrerkabine, in der der Schnee inzwischen einen Meter hoch liegt und alles bedeckt. Wir fliegen zur Straße, über die Spuren des Hummers hinweg, dann auch über den Wagen selbst, der am Straßenrand steht, und über die Spuren der beiden Männer, die der starke Wind schnell zudeckt.
Schließlich sinken wir, in den frisch gefallenen Schnee.
Mir ist nicht kalt.
Alessia dreht sich zu mir um. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand deutet sie auf ein halb verrostetes Schild am Straßenrand.
V NE IA.
Alessias Finger malt die fehlenden Zeichen in die Luft und vervollständigt das Wort auf dem Schild.
VENEZIA.
Venedig.
32
DER TOTE WALD
Es fühlt sich seltsam an, neben Alessia zu gehen.
Dies ist kein Traum, denn durch die Sohlen der Stiefel fühle ich die Unebenheiten der Straße, und ich atme die frische Luft des Morgens.
Aber dies kann unmöglich die Wirklichkeit sein.
Wenn ich die Luft tatsächlich atmen würde, wäre mir der Tod gewiss.
Und das Licht der Sonne würde mich selbst durch die dichte graue Wolkendecke verletzen.
Doch ich habe mich nie so gut gefühlt wie jetzt. Weder Hunger noch Durst quälen mich; ich spüre keine Kälte und auch keine Müdigkeit.
So müsste der Tod sein, nach der Doktrin, an die ich glaube.
Ich frage mich, ob dies der »glorifizierte Körper« ist, von dem die Schriften erzählen. Der ewige Körper, den wir nach der Wiederauferstehung bekommen. Der Körper, der für das immerwährende Leben im Himmel bestimmt ist.
Alessia lacht.
»Nein. Dies ist nichts so Poetisches. Du bist einfach nur geheilt. Vor der Sonne brauchst du keine Angst zu haben. ›Fürchte nicht mehr Sonnenglut, noch des Winters grimmen Hohn …‹ «
»Shakespeare …«
»Ja.«
»Was bist du?«, bringe ich hervor.
»Alessia.«
»Nein. Ich habe nicht gefragt, wer du bist, sondern was du bist.«
»Was für eine absurde Frage. Ich bin eine Frau.«
Ich weiche einen Schritt von ihr fort. Alessia kommt auf mich zu.
Ich mache zwei Schritte, und sie folgt mir erneut. Offenbar will sie nicht, dass die Entfernung zwischen uns zunimmt.
Beim Rückwärtsgehen stolpere ich und lande mit dem Hintern in einem Schneehaufen.
Alessia schüttelt den Kopf.
»Armer John. Hast du solche Angst vor mir?«
»Nein, habe ich nicht«, lüge ich.
»Hältst du mich für das Böse? Für einen Dämon, der dich in Versuchung führen soll, wie in euren Märtyrergeschichten? Ich bin nichts dergleichen. Ich bin eine Frau, wenn auch eine besondere. Aber ich bin kein übernatürliches Geschöpf und schon gar kein Dämon.«
Sie lächelt erneut, hebt beide Hände und streicht die Kapuze zurück.
Das Gesicht, das ich sehe, ist so wunderschön, dass mir kurz das Herz stehen bleibt.
Alessia hat kastanienbraunes Haar, und ihre Augen …
Die Augen sind unglaublich lebendig. Dunkel, aber darin ein Licht, das aus der Seele kommt.
Die Gesichtszüge sind zart, aristokratisch.
Es ist eine Schönheit, die für mich von weither kommt. Von den Madonnenbildern, die ich in Büchern gesehen habe. Sie erinnert mich an die Lippen meiner Mutter, als sie mir eine Gutenachtgeschichte las. Oder ans Lachen in Gesellschaft meiner besten Schulfreunde.
Es ist eine Schönheit voller Nostalgie und Bedauern.
Mit allem hätte ich gerechnet, aber nicht mit so etwas.
»Siehst du? Ich bin nicht der Teufel. Obwohl es heißt, dass der Teu fel die Eremiten in Gestalt schöner Frauen in Versuchung führte …«
»Und in deinem Fall?«
»Nein. Zeig mir deine Hand.«
Ohne zu zögern strecke ich die rechte Hand aus. Alessia ergreift sie nicht, was ich eigentlich von ihr erwartet habe, sondern beschränkt sich darauf, sie genau zu betrachten.
»Die Spitze des Zeigefingers ist krumm«, sagt sie schließlich.
»Ich habe mir das letzte Fingerglied vor zwei Jahren gebrochen. Es wurde so gut es ging in Ordnung
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