Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
gebracht.«
»Tut es weh?«
»Nein. Zu Anfang ja, aber jetzt nicht mehr. Ich habe mich längst daran gewöhnt.«
»Du hast dich an etwas gewöhnt, das nicht richtig ist? An etwas … Krummes?«
»Ja.«
Das schöne Gesicht wird ernst.
»Ich werde dich lehren, dich nie an Falsches zu gewöhnen. Komm.«
»Wohin gehen wir?«
»Zu einer Brücke, die nichts mehr nützt.«
Wir gehen lange. Es ist seltsam, draußen zu wandern, im Tageslicht, ohne Furcht dabei zu empfinden. Aber es ist nicht seltsamer, als zwanzig Jahre in unterirdischen Gewölben zu hausen.
»Wie ist das Leben in den Katakomben?«, fragt Alessia und bestätigt damit – als ob es nötig wäre –, dass sie meine Gedanken liest.
»Man lebt einfach, mehr nicht. Niemand würde sich freiwillig dafür entscheiden. Es ist ein ruhiges Leben und auch nicht besonders hart, wenn man von der Gefahr absieht, dass hier oder dort ein Gewölbe einstürzen könnte.«
»Fehlt euch das Licht nicht?«
»Nach einer Weile denkt man nicht mehr daran. Zugegeben, manchmal habe ich die Leute der Gruppen beneidet, die nach brauchbarem Material suchen. Aber wenn man dann jene von ihnen sieht, die zurückkehren, wenn man die Anspannung und Erschöpfung in ihren Gesichtern erblickt … Dann ist man froh, zu den Privilegierten zu gehören, die in den Katakomben bleiben dürfen.«
»Verstehe.«
»Aber sicher lebt auch ihr in unterirdischen Refugien? Wie macht ihr das? Venedig ist eine Stadt des Wassers.«
Alessias Lachen klingt wie das Läuten einer Glocke.
»Oh, warte ab. Es ist schwer zu erklären; du musst es mit eigenen Augen sehen.«
Wir gehen zwischen den Trümmern eines niedergebrannten Viertels. Die rußgeschwärzten Mauerreste bilden einen starken Kontrast zum Weiß des Schnees. Hier scheinen die Farben völlig aus der Welt verschwunden zu sein.
»Diese Stadt hieß einmal Mestre. Eine Brücke verband sie mit Venedig. Es war eine hässliche Stadt, aber auch ein wichtiger italienischer Eisenbahnknotenpunkt. Seltsamerweise fiel hier keine Bombe.«
»Was hat die Stadt dann zerstört?«
»Zu den Zerstörungen kam es im Lauf von Wochen und Monaten nach dem Fall der Bomben. Ein offen gelassener Gashahn. Kurzschlüsse bei Elektrogeräten. Kleine Feuer brachen aus und wurden zu großen Feuern, die sich durch die Stadt fraßen. Es gab keine Feuerwehr mehr, und kein Wasser, um die Brände zu löschen …«
Alessia deutet nach Süden, wo einige Schornsteine in der farblosen Eintönigkeit aufragen.
»Das ist Marghera. Dort gab es petrochemische Industrieanlagen. Vielleicht brach das Große Feuer dort aus.«
»Hat es auch Venedig zerstört?«
Alessia schüttelt langsam und nachdenklich den Kopf.
»Nein. Das Meer lag zwischen Marghera und Venedig.«
» Lag? Wie meinst du das?«
Wir erklettern eine kleine, schneebedeckte Anhöhe.
»Ich meine es so «, erwidert Alessia und vollführt eine Geste, die dem Bereich vor uns gilt.
Nichts hat mich auf das vorbereitet, was mir meine Augen zeigen.
Ich habe den Anblick von Venedig erwartet, aber nicht auf diese Weise.
Die Stadt zeigt sich in der Ferne, mit ihren Kirchtürmen und alten Bauten. Aber zwischen uns und ihr erstreckt sich nicht etwa die Lagune, sondern Land.
Die Reste einer Brücke führen über die windgepeitschte Steppe.
»Das ist Venedig«, sagt Alessia und lächelt.
»Und dort haben wir die berühmte Brücke, die nichts mehr nützt«, fügt sie fröhlich wie ein Kind hinzu und macht sich an den Abstieg. »Dies sieht aus wie die Bucht von Dorothy Cove bei Ebbe, nicht wahr?«
»Was weißt du von Dorothy Cove?«
Die Frau in Blau lacht und rutscht den Hang der Anhöhe hinunter.
»He, ich habe dich gefragt, was du von Dorothy Cove weißt!«, rufe ich ihr nach. Doch sie antwortet nicht und hält auch nicht inne.
Ich folge ihr. Es ist so, als ginge man eine Düne hinunter. Weitere Dünen, eine Mischung aus dunklerem Boden und Schnee, erheben sich zwischen uns und der alten Stadt der Dogen, die ungefähr vier Meilen von uns entfernt ist.
Ich habe weder Waffen noch Proviant.
Ich trage weder Atemmaske noch dicke Kleidung.
Trotzdem fühle ich mich so kräftig und beschwingt wie ein Zwanzigjähriger.
Die sandige Fläche vor mir hat tatsächlich Ähnlichkeit mit der Bucht von Dorothy Cove bei Nahant. Vater fuhr uns am Wochenende dorthin. Für mich war es der schönste Ort in Massachusetts und vielleicht der ganzen Welt. Wir wanderten über den Strand, der bei Ebbe riesig wurde – für uns Kinder schien er
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