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Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)

Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)

Titel: Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tullio Avoledo
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Reihen übereinander. Schilder auf der Brust weisen auf Namen und Alter hin.
    Fünf Jahre.
    Sechs Jahre und zwei Monate.
    Drei Jahre …
    Ich spreche ein lautloses Gebet für all die Toten.
    Alessia dreht sich um und lächelt.
    »Sie ruhen in Frieden und brauchen keine Gebete.«
    Die junge Frau nähert sich der Mumie eines Mädchens, gehüllt in Stoffbahnen, die einmal rosarot gewesen sein müssen.
    »Dies ist meine Schwester.«
    Entsetzt merke ich: Es hätte mich kaum überrascht, wenn das tote Mädchen kurz genickt hätte, um sich vorzustellen.
    »Sie ist vor langer Zeit gestorben und war damals elf Jahre alt, siehst du?«
    »Warum bringt ihr eure Toten hier unter?«, frage ich leise.
    »Warum? Was macht ihr denn mit ihnen?«
    Die Frage verwundert mich.
    »Nun, wir beerdigen sie.«
    Alessias Gesicht ist ernst.
    »Auf welche Weise?«
    »Wenn jemand stirbt, wird der Tote von der Beerdigungsgruppe des Stadtrates nach draußen gebracht.«
    »Und dann?«
    »Dann wird er begraben.«
    Alessia schüttelt den Kopf.
    »Der gefrorene Boden ist hart wie Stein.«
    Ich verstehe, worauf sie hinauswill. Mir sind in dieser Hinsicht ebenfalls Zweifel gekommen, mehr als nur einmal. Niemand weiß, ob die Beerdigungsgruppen wirklich das tun, was sie behaupten, oder ob sie die Leichen auf andere Art und Weise verschwinden lassen.
    Es ist letztendlich eine Frage des Glaubens, wie so viele andere Dinge in unserem Leben.
    Alessia wirkt traurig.
    »Aber ihr lebt in Katakomben. Die alten Christen haben sie gegraben, um ihre Toten in der Nähe der Heiligen zu bestatten. Ihr entgegen verbannt eure Toten nach draußen, ihr werft sie weg wie Müll.«
    Sie kehrt mir den Rücken zu.
    Ich bemerke, dass sie die Fäuste geballt hat.
    So sehe ich Alessia zum ersten Mal.
    Mit rührender Zärtlichkeit streichelt sie die Schulter des toten Mädchens.
    »Wir schicken unsere Toten nicht fort. Sie bleiben immer bei uns.«
    »Sie sind alle hier?«
    Alessia lacht bitter, fast verächtlich.
    »Alle Toten von Venedig? Nein, das wäre unmöglich. Die Erfah rung hat uns geeignete Orte gezeigt, wo die Beschaffenheit von Luft und Boden die Konservierung des Körpers ermöglichen. Für uns ist es wichtig, mit den Toten in Verbindung zu bleiben.«
    Alessia berührt noch einmal ihre Schwester und lenkt ihre Schritte dann zum Ausgang.
    Wir gehen durch einen weiteren Korridor, der kürzer ist als der erste.
    Eine Treppe zwischen den versteinerten Pfählen bringt uns zum Erdgeschoss des Palazzos.
    Ich habe so lange in dunklen Gewölben gelebt, dass ich fast vergessen habe, welches Wunder das Licht darstellt. Wie kostbar es ist, noch kostbarer als Wasser und Luft. Zu beobachten, wie Dinge glänzen oder wie sie Schatten werfen … Es ist ein großartiger Anblick. Ich stelle mir vor, viele Jahre lang blind gewesen zu sein und plötzlich wieder sehen zu können.
    »Gefällt es dir?«, fragt Alessia mit lachenden Augen.
    Ich finde es unglaublich, wie schnell ihre Stimmung wechseln kann. Diese junge Frau ist wie ein Tag voller Gewitter.
    »Es ist wunderschön«, antworte ich.
    »Du hast noch gar nichts gesehen.«
    »Wem gehört dieses Gebäude?«
    »Oh, es ist meins.«
    »Dieser Palazzo?«
    »Ja. Komm, ich zeige dir was.«
    Wir gehen eine lange Freitreppe hoch, umgeben von einem Licht, das grau und gedämpft sein mag, aber trotzdem herrlich ist.
    Mit offenem Mund bestaune ich mit Stuck verzierte Decken, große Leuchter und Gemälde, die streng blickende Personen zeigen: Prälaten, Offiziere in Rüstungen und mit Perücken aus dem siebzehnten Jahrhundert, Richter und würdevolle Frauen – sie alle erwidern meinen Blick mit Herablassung.
    Wir bringen zwei breite Treppen hinter uns und erreichen einen Salon mit Deckenfresken. An den Wänden stehen Vitrinen mit fantastischem Inhalt.
    »Venedig war einmal berühmt für seine Glasproduktion. Eine ganze Insel, Murano genannt, war darauf spezialisiert.«
    Die Vitrinen enthalten Wundervolles: Vasen und Gläser, deren Farben mir unglaublich erscheinen, atemberaubend fantasievoll dekoriert.
    Alessia führt mich zu einer Vitrine, die kleiner ist als die anderen und ein einziges Objekt enthält, eine wenige Zentimeter lange Ampulle aus durchsichtigem Glas. Sie wirkt so leicht, als könnte sie beim geringsten Windhauch fortfliegen.
    »Dieser Gegenstand ist sehr alt.« Alessia flüstert, als wollte sie den Frieden dieses Ortes nicht stören. »Er wurde in einem römischen Schiff entdeckt. Als das Meer zurückwich, haben wir wahre Schätze

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