Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
verlieren und nicht von Dauer sein.
Und doch …
Tief in meiner Seele fühle ich einen Verlust, geschaffen von dem Wissen, dass diese Frau nie mein sein wird. So wie auch die Vergangenheit nicht mehr mir gehört, die Tage, die wir hinter uns gelassen haben.
»Du bist traurig«, flüstert Alessia.
»Ja.«
»Du musst nicht traurig sein. Dies ist eine Stadt der Freude. Heute Abend veranstalten wir ein großes Fest für dich.«
Bei diesen Worten krampft sich etwas in mir zusammen. Ich erinnere mich an das schreckliche Fest in Rimini, an den Tod vieler unschuldiger Menschen.
»Hör auf damit«, sagt Alessia. »Hör auf damit, dich für alles schuldig zu fühlen.«
»Du hast recht. Meine eigene Schuld genügt völlig, mich zu erdrücken.«
»Deine Schuld? Und woraus besteht sie? Welche Schuld könntest du haben? Der Krieg geht nicht auf dich zurück. Nicht du hast die Welt zerstört. Die Wahrheit lautet: Wir werden nie erfahren, wer dafür verantwortlich ist. Aber du bestimmt nicht.«
»Das meine ich nicht. Ich habe eine andere Schuld. Diese Mission ist ein Fehler gewesen. Tote pflastern unseren Weg, und ich kann mich einfach nicht davon überzeugen, dass es nicht meine Schuld ist. Unsere Schuld.«
»Wie dumm, so etwas auch nur zu denken.«
»Dann bin ich eben dumm. Es war ein Fehler, mich mit dieser Mission zu beauftragen.«
»Möchtest du darüber reden? Ich weiß noch immer nicht, woraus sie besteht, deine Mission.«
»Aber du kannst doch meine Gedanken lesen.«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Du lügst.«
»Ich lüge nie.«
Ich seufze. Wie können solche Augen lügen? Jung scheinen sie zu sein, jünger als die Welt und jede Schuld. Dunkel sind sie, diese Augen, fast schwarz, und gleichzeitig leuchten sie hell.
Die Worte platzen aus mir heraus, viel zu schnell, als dass ich sie zurückhalten könnte.
»Trotzdem bin ich sicher, dass du meine Gedanken liest.«
Alessia hebt die Hand zum Mund, und ihre Augen lachen.
»O nein! Glaubst du das wirklich? Ich lese deine Gedanken nicht. Niemand von uns kann Gedanken lesen, abgesehen vom Patriarchen …«
Es kommt einem Schock gleich, diesen Namen zu hören.
»Es gibt ihn also, den Patriarchen!«
»Natürlich gibt es ihn. Warum bist du so überrascht?«
»Weil …«
Ich zögere und entscheide schließlich, mit einer Lüge zu antworten.
»Weil ich ihn für eine Legende gehalten habe.«
»Nein, das ist er nicht. Du wirst ihm beim Fest heute Abend begegnen. Komm, ich zeige dir dein Zimmer.«
Die Nachricht, dass der Patriarch wirklich existiert, hätte mich eigentlich erfreuen sollen, bedeutet sie doch, dass meine Mission kurz vor ihrem Abschluss steht. Aber das alles ist angesichts der Herrlichkeit dieses Ortes und seiner Schätze, vor allem Alessia, in den Hintergrund getreten.
Ich folge ihr schweigend.
Wir wandern durch lange Korridore und andere Räume, die größtenteils im Halbdunkel liegen. In einigen von ihnen glaube ich am Boden liegende Personen zu sehen. Aber Alessia geht sehr schnell, und mir bleibt nicht genug Zeit, Details aufzunehmen.
In einem Flur hängen leere Rahmen an den Wänden.
»Wohin sind all die Bilder verschwunden?«, frage ich.
Alessia schneidet eine Grimasse, doch ihr Gesicht glättet sich sofort wieder.
»Ich weiß es nicht.«
Als ich nahe an einem Rahmen vorbeikomme, bemerke ich ein Funkeln. Ich bücke mich, angeblich deshalb, weil sich ein Schnürsenkel gelöst hat. Das Funkeln, so stelle ich fest, stammt von einem Glassplitter, der auf einer Seite mit silberner Farbe bestrichen ist.
In den Rahmen stecken keine Bilder, sondern Spiegel.
Alessia winkt ungeduldig – sie hat bereits die Tür am Ende des Korridors erreicht. Ich nehme den Glassplitter, hülle ihn in ein schmutziges Taschentuch und stecke ihn ein. Dann schließe ich rasch zu der jungen Frau auf.
Der Raum ist groß. In der Calixtus-Katakombe steht nicht einmal Kardinal Albani so viel Platz zur Verfügung. Ein großes Bett muss hier einmal gestanden haben, denn auf dem Boden zeigen sich die Abdrücke der Beine. Aber jetzt ist es nicht mehr da. In der Mitte des Zimmers liegen nur eine gepolsterte Matte in der Art eines japanischen Futons. Daneben sehe ich eine gefaltete Decke, ein sauberes Handtuch und einen Teller mit einem kleinen Stück Seife.
Auf der einen Seite des Raums reichen Bücherstapel vom Boden bis zur Decke. Sie könnten unterschiedlicher kaum sein, denn Taschenbücher sind ebenso vertreten wie dicke Bände aus dem achtzehnten
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