Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Menuett einer anderen Melodie, die aus dem Hintergrund kommend nach vorn rückt. Es ist ein Lied aus den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts.
The Wind Beneath My Wings.
»Gefällt dir das besser?«
»Ja«, erwidere ich.
»Wie bitte?«
»Ja!«
»Warum tanzt du dann nicht?«
»Ein Priester tanzt nicht …«
Alessia lacht.
»Hier tanzen alle! Du musst ebenfalls tanzen!«
Ich schüttele den Kopf.
Alessia verzieht vergnügt das Gesicht und wirft sich in die Menge der Tänzer. Der Tanz hat nichts Altes, Klassisches. Männer, Frauen und auch einige Kinder heben immer wieder die Arme, bewegen sich im Kreis und treten dann zur Seite – ihre Bewegungen beschreiben komplexe Figuren. Ich erinnere mich an einen Dokumentarfilm, den ich vor vielen Jahren gesehen habe, über Bienen und ihre Flugmuster: perfekte geometrische Figuren in drei Dimensionen. Die Schritte der Tänzer scheinen einer ähnlichen Logik zu folgen und komplizierte Muster zu formen, die ich nicht verstehe.
»Geht es dir wieder gut?«, fragt mich Alessia. Sie steht plötzlich hinter mir.
»Ja.«
»Dann tanz!«
Meine Beine bewegen sich von ganz allein, machen einen ersten Schritt und dann noch einen, bis ein Tanz daraus wird, langsam erst, dann immer schneller, bis ich mich im Kreis der Venezianer wiederfinde und mich ihrem Rhythmus anpasse. Auch ich hebe die Arme und lasse sie wieder sinken, schwenke sie nach rechts und links, während die Füße einer unsichtbaren Linie folgen.
Neben mir lacht Alberto.
Ich drehe mich um, und für einen Moment sehe ich sein Spiegelbild in einer nahen Scheibe, ein Gesicht, das ganz Maske zu sein scheint: ein Totenkopf mit leeren Augenhöhlen, der Mund ein lippenloses Grinsen.
Aber dann steht Alberto vor mir und lächelt spöttisch.
»Sie tanzen ebenfalls, Pater? Feiern Sie mit uns?«
Die Erinnerungen an ein anderes, schreckliches Fest kehren zurück, in den Teil meines Bewusstseins, in dem es noch so etwas wie Vernunft gibt. Meine Füße bleiben in Bewegung. Hinter der von Boccherini komponierten Musik glaube ich, etwas anderes zu hören, ein lauter werdendes Pochen von Trommeln, das mir einen kalten Schauer über den Rücken jagt. Plötzlich habe ich einen schlechten Geschmack im Mund, und erneut plagt mich heftiger Kopfschmerz.
Ich sehe dunkle geflügelte Gestalten, die über die Menge herfallen, wehrlose Männer, Frauen und Kinder zerfleischen. Ich höre Gottschalls irres Lachen, und dabei gefriert mir das Blut in den Adern. Aber es stammt nicht von Gottschall, dieses Lachen, sondern von Alberto, der eine Schlange von Maskenträgern im Galopp anführt. Unter ihnen ist auch Alessia: Sie schwitzt, springt und tanzt mit geschlossenen Augen.
Auf einmal gehöre auch ich zu der Schlange, ohne zu wissen, wie ich einen Platz in ihr gefunden habe. Ich bin von der Musik wie gefesselt, und hinzu kommt der Wunsch, nicht von den beiden einzigen Personen getrennt zu werden, die ich kenne.
Wir tanzen durch lange Flure und zahllose Zimmer, manche von ihnen dunkel, andere von großen gläsernen Lüstern taghell erleuchtet.
Ich weiß nicht, wer in unserer Schlange aus Körpern als Erster schreit. Ich weiß nur, dass diesem ersten Heulen weitere Schreie folgen, und einer kommt aus meiner Kehle: ein Freudenschrei, der etwas Animalisches hat und älter ist als der Mensch. Wenn noch etwas Müdigkeit in mir steckte, so löst sie sich in diesem Schrei auf, ebenso wie die Reste von Rationalität. Ich bin einfach nur noch, ohne irgendwelche geistigen oder körperlichen Lasten.
Ich schreie.
Die junge Frau vor mir reagiert mit einem eigenen Schrei darauf, ebenso Alessia, deren Schritte schneller werden. Wie Verrückte laufen wir durch die Zimmer des Palazzos, ohne auf Gefahren zu achten. Im letzten Moment weichen wir Möbeln und Ecken aus; niemand von uns kommt zu Schaden. Nicht ein Mal halten wir inne. Schnell wie der Wind rennen wir durch Korridore und Räume, laut und stürmisch.
Ich habe befürchtet, dass mein Herz die Belastung nicht aushalten würde, aber ich laufe und springe ohne Mühe, als wäre ich wieder fünfzehn und liefe durch den Wald hinter unserem Haus, auf der Suche nach dem verletzten Hirsch, den Tommy angeblich gesehen hat und von dem ich keine Spur finde …
Plötzlich bricht die lange Schlange auseinander. Die Tänzer trennen sich voneinander, wie vom Queue getroffene Billardkugeln. Einige verschwinden in nahen Zimmern, andere scheinen sich einfach in Luft aufzulösen oder von den Wänden
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