Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
des heiligen Markus und damit auch von Venedig, sowie den heiligen Georg mit dem Drachen.
Auf der ersten Säule sehe ich die Statuen eines Mannes und einer Frau.
Auf der zweiten …
Mir bleibt nicht genug Zeit, genauer hinzusehen, denn Alessia ruft mich herrisch wie ein Kind.
Ich blicke noch einmal zu der Statue, kann aber keine Einzelheiten erkennen. Ein Nebel scheint sich mir vor die Augen zu legen und die Konturen der Figur zu verwischen.
»Komm! Der Patriarch wartet auf uns …«
Wir gehen durch ein Portal.
Auf der linken Seite erscheint für einen Moment – wie eine Vision – eine Statue aus dunklem Stein, beziehungsweise eine Gruppe von Statuen: vier Könige, oder vier Soldaten, die sich umarmen.
»Die römischen Tetrarchen«, erklärt Alberto. »Zwei Augusti und zwei Caesares. Sie teilten sich die Macht über das Reich. Dieses System wurde 293 von Kaiser Diokletian eingeführt. Aber die früheren Venezianer glaubten, es seien die Reste von vier Türken, die versucht hatten, die Markus-Reliquien zu stehlen, woraufhin sie vom Heiligen in Statuen verwandelt worden waren. Legenden, die auf Legenden beruhen.«
Der junge Mann eilt durch einen dunklen Flur und dann durch eine Art gotischen Triumphbogen, der aus Disneyworld zu stammen scheint.
Nach einer letzten ironischen Verbeugung entfernt er sich wie in einem Tanz. Die Laterne hat er nicht mehr. Er braucht sie auch gar nicht. Um uns herum ist die Nacht hell erleuchtet. Musik liegt in der Luft, Melodien aus vergangenen Jahrhunderten. Sie hallt von den Wänden wider und erwärmt die Nacht.
Irgendwie erscheint mir die Musik vertraut.
Ich habe so etwas schon einmal gehört.
Ich würde gern stehen bleiben und versuchen zu verstehen, woher die Klänge kommen und was sie bedeuten. Aber ich laufe Gefahr, Alessia aus den Augen zu verlieren. Ihr rotes Gewand erscheint dann und wann im uniformen Schwarz der Menge. Ich gehe noch etwas schneller, um nicht den Anschluss zu verlieren, eile unter einem Bogen hindurch und eine monumentale Freitreppe hoch.
Ganz Venedig scheint sich hier versammelt zu haben, auf dem Platz und unter den Arkaden des Palazzo Ducale, dem alten Wohnsitz der Dogen. So viele Personen, so viel Schönheit … Es ist unglaublich. Alles scheint intakt zu sein. Als wäre überhaupt nichts geschehen. Maskierte Männer und Frauen sehen von oben auf die Neuankömmlinge herab und nehmen die fröhlichen Grüße mit einem Nicken entgegen.
Wie aus dem Nichts erscheint Alessia neben mir.
»Komm, John. Komm und sieh.«
Der Bogengang ist voller Menschen. Hunderte von Maskierten, die sich bewegen wie das kochende Wasser in einem Topf. Männer und Frauen haben ihre schwarzen Umhänge abgestreift und zeigen die ganze Pracht ihrer Kostüme: lange Gewänder und Röcke weit wie Mohnblumen bei den Frauen; elegante Anzüge bei den Männern. Hinzu kommen gepuderte Perücken bei beiden Geschlechtern. Auf die ebenfalls gepuderten weißen Gesichter sind Muttermale aufgeklebt, wie im achtzehnten Jahrhundert üblich. Die Masken vor den Augen geben den Leuten etwas Geheimnisvolles. Die beiden Teile der Gesichter, der obere und untere, scheinen nicht zueinander zu passen. Oben, bei den Masken, bleibt alles unbewegt, während unten der Mund lächelt und lacht oder ein mehrdeutiges Kompliment spricht, wie im Fall eines als Casanova verkleideten Mannes, der mit einer üppigen jungen Frau anzubandeln versucht, die nicht älter als achtzehn sein kann.
Lange Tische mit Speisen und Getränken stehen in der Mitte des Bogengangs. Es herrscht ein unfassbarer Überfluss, und was noch absurder ist: Es sind keine Speisen, die aus Konserven stammen. Das Obst scheint frisch zu sein, ebenso das Brot.
Auf einem Podium steht ein aus zwanzig Personen bestehendes Orchester. Sie tragen ebenfalls Kostüme, und ihre Musik ist wundervoll.
»Gefällt es dir?«
»Ist das Vivaldi?«
»Nein! Boccherini. Das Minuetto . Gefällt es dir?«
Wir müssen lauter sprechen, um uns verständlich zu machen. Die Stimmen der vielen Menschen um uns herum … Sie klingen fröhlich, und ihre Fröhlichkeit ist ansteckend.
»Die Musik erschien mir vertraut.« Ich rufe die Worte fast. »Aber ich kenne sie nicht.«
»Möchtest du lieber etwas hören, das du kennst?«
»Ja.«
Die klassische Musik erklingt auch weiterhin.
Ich bin enttäuscht.
Für einen Moment habe ich es für möglich gehalten, dass Alessia tatsächlich ein Wunder vollbringen könnte.
Doch dann wird mir klar: Nach und nach weicht das
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