Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
skeptisch. Gibt es etwas, woran Sie glauben?«
Es weht kein Wind, doch Alberto schwankt vor mir, bewegt sich fast wie eine Flamme.
Eine Nadel scheint sich mir in den Kopf zu bohren. Ich spüre stechenden Schmerz, und das rechte Auge schließt sich.
»Ich glaube an Gott, der Sie und mich schuf, und auch diese Welt«, erwidere ich mühsam und beiße die Zähne zusammen.
Die Antwort besteht aus einem Lachen.
»Gott hat diese Welt nicht geschaffen. Das haben wir selbst getan. Für dieses Wunder sind wir verantwortlich. Sehen Sie nur, Pater.«
Ich ringe noch immer mit dem Kopfschmerz, als ich in die Richtung blicke, in die Alberto mit der Laterne zeigt. Zwischen den Gebäuden am linken Ufer, das sich kilometerweit fortzusetzen scheint, tasten zwei mächtige Lichtstrahlen gen Himmel – ich schätze, dass sie mindestens eine Meile weit nach oben reichen.
Sie erinnern mich an etwas, an ein Bild aus der Vergangenheit.
»Auch das haben wir erschaffen. Es gibt nichts Vergleichbares auf der Welt. Nichts Vergleichbares …«
Alberto lacht und entfernt sich schnell, er läuft fast. Wie die anderen scheint er Nachtfaltern gleich vom Licht angezogen zu werden. Die Lichter von Fackeln, Kerzen und Laternen tanzen, als alle in Richtung der beiden Lichtstrahlen eilen, und ich mit ihnen.
Und dann fällt mir plötzlich ein, woran mich die beiden Türme aus Licht erinnern. An die Twin Towers des World Trade Center, vor zweiunddreißig Jahren eingestürzt. Ihre Geister scheinen sich hier zu präsentieren und in den Himmel über Venedig zu ragen.
Es brennt mir in der Lunge, als ich zusammen mit den anderen dem Licht entgegenlaufe. Das rhythmische Geräusch meiner Schritte vermischt sich mit dem der anderen, und auf einmal wird mir klar, was mir unterwegs im Kanal aufgefallen ist und einfach nicht zu diesen Geräuschen passen will.
Die vielen Leute … Niemand von ihnen hinterlässt Spuren.
Hinter uns zeigt sich nicht ein einziger Abdruck auf dem Boden.
Als berührten wir ihn gar nicht, als flögen wir über ihn hinweg.
Oder als wären wir nie im Kanal unterwegs gewesen.
Und dann öffnet sich vor mir die atemberaubende Schönheit des Markusplatzes.
36
DER TANZ
Wir verlassen den Kanal über eine steil nach oben führende Rampe. Es ist fast so, als kletterten wir an der Flanke einer Pyramide empor.
Je höher wir kommen, desto mehr Einzelheiten gibt der Markusplatz von sich preis.
Er sieht genauso aus wie auf den Fotos. Die Gebäude sind noch intakt, mehr oder weniger, doch die Fenster bleiben dunkel; nirgends brennt auch nur eine Kerze.
Der Platz hingegen ist voller Lichter.
Zwei Scheinwerfer sind auf dem Dach eines Gebäudes angebracht, das ich als »Uhrenturm« erkenne. Früher hatte er zwei Mauren aus Bronze, die die Zeit angaben, indem sie ihre Hämmer an die Glocke schlugen.
Jetzt sind die Mauren nicht mehr da.
Ihren Platz nehmen zwei Figuren ein, die vermutlich aus Pappmaschee oder einem ähnlich leichten Material bestehen, denn schon ein leichter Windstoß genügt, um sie zu bewegen: ein Mann und eine Frau, ihre Blößen nur von einem Feigenblatt bedeckt. Ihr übertriebenes Rosarot erscheint mir fast wie eine Karikatur. Zwischen ihnen, wo sich früher die Glocke befand, steht ein Baum, ebenfalls aus Pappmaschee, an dessen Zweigen ein einzelner übergroßer Apfel hängt, rot wie der, den die Hexe Schneewittchen gab.
Die steile Rampe aus festgetretener Erde hinaufzugehen ist wie eine Zeitreise. Die Fenster der Cafés und Läden sind noch heil, ebenso die Tische, die so aufgestellt sind, als wollten sie Touristen empfangen. Von den maskierten Venezianern setzt sich niemand. Sie bleiben in Bewegung, gehen unermüdlich über den großen Platz. Die Tische bleiben leer.
Ich folge Alberto und Alessia, die sich einen Weg durch die Menge bahnen. Tausende scheinen sich auf dem Platz eingefunden zu haben, was eigentlich unmöglich sein sollte. So viele Menschen kann es hier gar nicht geben. Eine große Menge besteht heutzutage aus einigen Dutzend Personen, nicht aus vielen Tausend.
Und doch … Ich habe tatsächlich den Eindruck, dass es so viele Leute sind.
Alle tragen Masken und Umhänge, die hier offenbar unverzichtbar sind. Und alle weichen vor Alessia beiseite, verbeugen sich und nehmen als Zeichen des Respekts den Dreispitz ab.
Ich hebe den Blick zu den beiden Säulen, die den Platz dort begrenzen, wo sich früher das Meer befand. Sie stehen noch, tragen aber nicht mehr den goldenen geflügelten Löwen, Zeichen
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