Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
wortlos um, leuchtet mit der Laterne und zeigt uns den Weg.
Die Übelkeit weicht langsam aus mir, aber nicht ganz. Ein Teil von ihr bleibt, liegt wie auf der Lauer.
Wir setzen den Weg fort, auf einem Boden, der einst der Grund des Canal Grande war. Dann und wann fällt das Licht der Laterne auf etwas, das aus dem getrockneten Schlamm ragt. Meistens sind es kaum noch erkennbare Reste von Booten und Kähnen. Doch kurz vor dem Ponte dell’Accademia erreicht der Laternenschein etwas Erstaunliches.
Dort liegt der Kadaver eines riesigen Meereswesens.
Die anderen Wanderer schenken ihm keine Beachtung und gehen einfach weiter.
Doch ich starre darauf.
Die weißen Rippen bilden eine Art Käfig, wie die Daube eines Schiffes aus Knochen. Das Maul des Geschöpfs erscheint mir absurd, eine Mischung aus Fisch und Raubsäugetier – eine Kreatur, die aus einem mittelalterlichen Bestiarium zu stammen scheint.
»Was ist das?«, bringe ich hervor und spüre, wie die Übelkeit wieder stärker wird.
Alessia hebt und senkt die Schultern. »Keine Ahnung. Es liegt schon lange da.«
»Noch mehr Magie, oder vielleicht ein Wunder «, spottet Alberto.
»Seit wann liegt das Wesen hier?«
»Ich weiß nicht. Schon immer«, sagt Alessia. »Oh, sieh nur, auf der Brücke dort, die Feuerschlucker!«
Ich blicke nach oben.
Der Ponte dell’Accademia hat nichts Feierliches oder Würdevolles. Er ist nicht mit der majestätischen Steinkonstruktion der Rialtobrücke zu vergleichen, besteht aus Holz und wirkt provisorisch. Doch in diesem Moment ist er die faszinierendste Brücke, die ich je gesehen habe.
Etwa zwanzig maskierte Männer und Frauen haben sich auf ihr verteilt. Jeder von ihnen hält eine Flasche in der einen Hand und eine Fackel in der anderen. Dann und wann nehmen sie einen Schluck und spucken die Flüssigkeit, die sich im Feuer der Fackeln entzündet. Auf diese Weise entstehen meterlange Flammen, die in der Dunkelheit fantastische Formen bilden, wie Drachen, Blumen oder exotische Vögel.
Ich staune mit offenem Mund. Die Brücke selbst scheint sich in einen Drachen zu verwandeln, der sich krümmt, sich schüttelt, den Kopf hebt …
Einmal habe ich als Kind das chinesische Neujahrsfest gesehen, in der Chinatown von Boston. Ich erinnere mich an die Farben und die laute Musik, daran, wie sehr mich der Drache erschreckt hat, der sich auf zahllosen Beinen durch die Menge schlängelte. Der Kopf mit den großen Augen drehte sich in meine Richtung, und das Maul schien sich zu bewegen, als wollte es Feuer nach mir spucken.
Ich schrie.
Ich wollte gar nicht aufhören zu schreien.
Ich öffne die Augen, und die Brücke ist wieder nur eine Brücke, auf der die Fackeln der Akrobaten langsam nach links schweben und sich entfernen.
»Wohin gehen sie?«, frage ich Alessia.
»Wohin auch wir gehen. Zum Palazzo des Patriarchen.«
»Steigen wir nicht zur Brücke hoch?«
»Nein. Wir folgen dem Verlauf des Kanals. Weißt du, es gibt immer mehrere Möglichkeiten, einen bestimmten Ort zu erreichen.«
Wir gehen weiter, an dunklen Ufern entlang, wo wundervolle Palazzi aufragen. Nichts scheint in dieser Stadt zu leben, bis auf die Wanderer. Ich höre ihre Schritte und das Rascheln ihrer Kleidung. Allmählich wird der Kanal breiter, und rechts erhebt sich die Kirche Santa Maria della Salute wie auf einem Kap – sie erscheint mir wie eine Festung, die die Stadt schützen soll. Sie ruht auf einer Million Pfählen, die so dicht an dicht stehen, dass sie wie eine Felswand aussehen.
Das dreieckige Gebäude ganz vorn ähnelt dem Bug eines Schiffes. Jenseits davon, auf der anderen Seite der alten Dogana, erstreckt sich das öde Tal, das vor zwanzig Jahren die Lagune von Venedig gewesen ist.
Dort liegen mehrere Wracks, und eines von ihnen ragt weiter auf als alle anderen: die Reste eines riesigen Kreuzfahrtschiffes, nicht weniger eindrucksvoll als der monströse Kadaver bei dem Ponte dell’Accademia. Das weiße Schiff wirkt fast intakt, ist aber um mindestens dreißig Grad zur Seite geneigt.
Kleinere Wracks umgeben es.
»Das Meer ist hier fast zwölf Meilen weit zurückgewichen«, erklärt Alberto. »Wir wissen nicht, warum.«
»Ein mir bekannter russischer Professor denkt, dass es an der Kälte liegt. An den Polkappen sammelt sich mehr Eis, und dadurch sinkt der Meeresspiegel.«
»Mag sein. Andere Leute glauben, dass die Bomben der Grund sind.«
»Das glaube ich nicht.«
Alberto sieht mich lange an.
»Für einen Priester sind Sie ungewöhnlich
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