Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
geschaffen. Bevor ich hier eintraf, bin ich Priester gewesen, hatte eine Mission und glaubte an etwas namens Realität.«
»Wie seltsam. Ich hätte gedacht, dass du an Gott glaubst, nicht an die Realität.«
»An Gott glaube ich noch immer. Mehr als zuvor.«
»Weil du an etwas glauben musst?«
»Nein, ganz und gar nicht. Ich glaube an Gott, weil ich in dieser Stadt einer Macht begegnet bin, die über meine Vorstellungskraft hinausgeht. Und ich weiß, dass diese Macht nichts ist im Vergleich mit der des Herrn. Ich trage Ihn in mir. Von allem anderen ist nichts übrig geblieben.«
»Dir bleibt die Welt. Du hast gesehen, wie schön sie sein kann.«
»O ja. Und ob. So schön wie der Traum eines Betrunkenen.«
»Sie ist kein Traum.«
»Was auch immer sie sein mag, ich verzichte darauf. Ich vertraue Gott, der mich nie verlassen wird. Alles andere zählt nicht.«
»Nicht einmal ich?«, flüstert Alessia mit tiefer Trauer in der Stimme.
Ich drehe ruckartig den Kopf.
Es steht niemand neben mir.
Und der Schnee zeigt nur meine Spuren.
Ich gehe durch Gassen, die man Calli nennt und die seltsame Namen haben.
Salizzada San Canziano.
Calle del Fumo.
Calle Larga dei Botteri.
Calle della Vida …
Früher einmal waren hier so viele Touristen unterwegs, dass dichtes Gedränge herrschte. Besucher aus allen Teilen der Welt gingen über dieses alte Pflaster, strichen mit ihren Fingerkuppen und vielleicht ihrer Kleidung über diese alten Mauern. Ihre oft von Musik untermalten Stimmen lagen überall in einer Luft, die nicht immer nur aromatisch war, sondern auch unangenehme Gerüche tragen konnte. Aber so war er nun einmal, der Atem dieser Stadt.
Lebendig und kraftvoll.
Doch jetzt ist nichts mehr davon da. Tot erstreckt sich die Stadt um mich herum, still, kalt und leer. Nur Knochen sind von den Menschen übrig, die hier lebten. Dies sind die Trümmer unserer verlorenen Tage, und ein verrückter Priester humpelt durch Gassen, die er nicht kennt, nach Norden, zur Insel der Toten. Ich fühle den Wind im Rücken, wie er mich nach vorn drückt.
Die Kälte hat mir die Augen verkrustet. Meine Tränen der Erschöpfung und des Zorns gefrieren zu schmerzenden Klumpen. Ich kann die Augen weder schließen noch richtig öffnen. Eine danteske Qual.
Winzige Nadeln aus Eis stechen durch den Schal, bohren sich in Lippen und Wangen.
Jeder neue Schritt ist anstrengender als der vorhergehende.
Ich spüre, wie mich die Kraft verlässt, wie die Wärme in mir der Kälte weicht.
Als ich glaube, am Ende zu sein und das Labyrinth aus Gassen nie verlassen zu können, wanke ich aus der Calle della Vida und sehe mich zwei Inseln gegenüber, die wie Festungen aussehen. Die Karte teilt mir mit, dass die größere mit dem eingestürzten Glockenturm Murano ist. Bei der kleineren, nur wenige Hundert Meter entfernt, handelt es sich um die Insel San Michele.
Der Friedhof von Venedig.
Ich sinke auf die Knie. Meine Lippen zittern, und zusammenhanglose Worte kommen aus meinem Mund.
»Sie müssen nicht gleich niederknien, Priester …«
Ich glaube, meinen Ohren nicht trauen zu können.
Dann denke ich, dass es eine weitere Illusion sein muss, eines der grausamen Wunder dieser Stadt.
Eine weitere Täuschung. Ein weiterer Betrug.
Ich blicke zum Kai, wo die Fährschiffe angelegt haben. Ein Teil davon ist eingestürzt, doch der vorhandene Rest sollte mir erlauben, zum Boden der Lagune hinabzuklettern. Von dort aus müsste ich ohne allzu große Mühen in der Lage sein, die Insel zu erreichen. Wichtig ist zunächst einmal, zum Grund der ausgetrockneten Lagune zu gelangen.
»Haben Sie nicht gehört, Priester?«
Ich drehe den Kopf, um mich von der Halluzination zu befreien.
David Gottschalls Gesicht ist eine Fratze aus Pusteln und Narben. Ein Auge fehlt; das andere ist halb zugeschwollen.
Ich schüttele ungläubig den Kopf.
Die Faust des Wahnsinnigen trifft mich mitten im Gesicht. Auch er mag schwach geworden sein, aber sein Schlag hat genug Wucht, mich zu Boden zu schicken.
Gottschall beugt sich über mich und packt meine Schultern.
»He, Priester, kratz nicht ab. Nicht sterben, hörst du? Wir müssen eine Vereinbarung treffen, wir beide. Wer als Letzter ins Gras beißt, muss dem anderen seine Sünden vergeben. Schließlich will ich nicht im Fegefeuer landen. Nach all der Arbeit, die ich für Gottes Reich geleistet habe, erwarte ich eine Reise in einer Limousine, mit einer guten Stereoanlage und getönten Scheiben, mit allem Drum und Dran. Wenn man
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