Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Weiß ragender Kinderwagen, dort ein halb zerfallener Stofftornister mit einem Hello-Kitty-Anhänger.
Ich kehre dem Meer den Rücken zu, besser gesagt: jenem Ort, wo sich einst das Meer befand. Die Gelenke meiner Knie knirschen, als ich in Richtung Stadtmitte losgehe, durch Gassen, die wie die Arterien eines Körpers ohne Blut sind.
Es ist unheimlich, durch diese Gassen zu gehen, vorbei an den Wänden alter Häuser. Einst waren sie voller Touristen, diese teilweise recht schmalen Gassen, aber jetzt ist alles leer. Die Fenster starren wie tote Augen. In der gespenstischen Stille ist das Knirschen des Schnees unter meinen Schritten unnatürlich laut. Mehrmals drehe ich mich erschrocken um, weil ich glaube, jemanden hinter mir zu hören. Mit großem Unbehagen gehe ich an jeder offenen Tür und der Dunkelheit dahinter vorbei.
Da ich keine Gasmaske mehr habe, nehme ich einen Seidenschal aus dem zertrümmerten Schaufenster eines Gucci-Ladens und improvisiere einen Atemfilter daraus. Auch hier sind die Spiegel zerbrochen. Nach dem Tag des Leids scheint sich in Venedig eine Horde von Spiegelhassern ausgetobt zu haben, vor deren Zorn offenbar nichts Reflektierendes verschont blieb. Sie müssen mit einer Entschlossenheit vorgegangen sein, die mich verblüfft.
Ich glaube, Bune zu hören, wie er fragt: Hatten sie denn nichts Besseres zu tun?
In einer Welt, in der das Überleben von Tag zu Tag harte Arbeit ist … Welchen Sinn hat es in einer solchen Welt, herumzulaufen und Spiegel zu zerstören?
Aber wenn wir schon dabei sind: Welchen Sinn hat es, so herumzulaufen wie ich? Ich gehe einfach, obwohl ich gar nicht weiß, wohin mich meine Schritte bringen. Etwas scheint mich anzuziehen, mich zu rufen, und ich folge diesem Ruf.
Ich weiß, wo sich die geheimnisvolle Insel befindet, die fast rechteckige Insel.
Ich meine die, die ich im Traum gesehen habe, oder in der Vision, was auch immer es gewesen sein mag.
Sie befindet sich nicht weit von hier.
Doch um sie zu erreichen, muss ich die Stadt durchqueren, von Süden nach Norden. Zum Glück ist der Weg weitaus kürzer als der von Westen nach Osten.
Venedigs Form ähnelt einem Fisch. Ich stelle sie mir vor, wie ich sie auf einer Karte in der Calixtus-Katakombe gesehen habe.
Vor meinem inneren Auge nimmt sie Gestalt an. Da ist sie, die rechteckige Insel. Auf halbem Weg zwischen Venedig und der Insel Murano. Wegen seiner fast perfekten geometrischen Form auf den ersten Blick zu erkennen.
Die Insel San Michele.
Sie ist der Friedhof von Venedig. Seit 1807 wurden dort alle Toten der Stadt begraben, seit dem Inkrafttreten der napoleonischen Verordnungen, die Bestattungen innerhalb der Stadt verboten. Ursprünglich waren es zwei Inseln; sie wurden miteinander verbunden, um mehr Platz zu schaffen. Es gab Projekte, die eine Erweiterung vorsahen, aber ich bezweifle, dass nach dem Tag des Leids etwas daraus geworden ist.
Leider weiß ich nicht, wie man die Insel erreichen kann und wie sie beschaffen ist.
Das Glück kommt mir bei einer der häufigen Ruhepausen zu Hilfe, die ich einlegen muss, weil ich außer Atem gerate.
Bei allen Geschäften, an denen ich bisher vorbeigekommen bin, sind Fenster und Türen zertrümmert. Dieser Laden bildet da keine Ausnahme.
Doch im Innern sehe ich etwas, das mir einen Freudenruf entlockt.
Im Halbdunkel bemerke ich einen Drehständer mit Postkarten und Stadtführern. Die Plünderer haben diese Dinge offenbar nicht für interessant gehalten.
Ich betrete den Laden. Mit einem lauten Knacken zerbricht unter meinen Stiefeln die Wirbelsäule eines Skeletts.
Es sind zwei, und sie liegen dicht hinter dem Eingang. Eines der beiden, ob Mann oder Frau, hat ein Einschussloch in der Stirn, und man kann deutlich erkennen, wo die Kugel aus dem Schädel ausgetreten ist. Ein drittes Skelett finde ich hinter dem Tresen des Schreibwarenladens, mit einer abgesägten Schrotflinte zwischen den Knochen. Ich hebe die Waffe auf. Sie ist rostig, und die Patronen sind so vergammelt wie die ausgestellten Waren. Nützlicher ist das Messer, das ich unter der Jacke eines der beiden Toten am Eingang entdecke – ich stecke es ein. Bei dem anderen, etwas kleineren Skelett suche ich vergeblich nach irgendwelchen Waffen. Unter den Knochen des Mannes hinter dem Tresen liegt eine Brieftasche, aber ich hebe sie nicht auf, denn sie ist halb vermodert. Interessanter wäre es gewesen, etwas über die Identität der beiden Plünderer zu erfahren, doch sie haben keine Brieftaschen bei
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