Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
sich getragen.
Ich wende mich von ihnen ab und humpele zum Drehständer hinüber. Mit zitternden Fingern nehme ich die oberste Stadtkarte. Sie ist vergilbt und feucht, aber es gelingt mir, sie vorsichtig zu öffnen, und da ist sie: die Insel und die Calli , durch die ich gehen muss, um sie zu erreichen. Es ist nicht mehr weit; der größte Teil des Weges liegt bereits hinter mir. Und obwohl ich die Stadt gar nicht kenne, habe ich bisher genau die richtigen Gassen genommen, als hätte etwas meine Füße gelenkt.
Ich lache.
Bin ich verrückt geworden?
Ich habe die letzten Tage mit Angst vor den Kreaturen im Draußen verbracht, und jetzt bin ich froh darüber, dass mich eine von ihnen bis hierher geführt hat. Ich gehe sogar zu einer von ihnen, freiwillig, ohne dass mich jemand zwingt.
Aber ist das wirklich so?
Gibt es noch so etwas wie einen freien Willen, wenn man Illusionen und Visionen erliegt, die eine tote Stadt in ein großes Fest verwandeln? Unter den Arkaden des Palazzo Ducale habe ich im Schein großer Kronleuchter einen üppig gedeckten Tisch gesehen, doch das Licht des Morgens hat mir verfaultes Holz mit rostigen Nägeln gezeigt. Ich erinnere mich: In einer Ecke des Haufens lag ein Rattenschädel und starrte mich mit leeren Augenhöhlen an.
Ein Stillleben, das meine Naivität verhöhnt.
Aber die Illusion hat so echt gewirkt.
Ich nehme so viele Postkarten wie möglich mit. Es ist dumm, ich weiß, aber ich kann einfach nicht anders. Sie geben mir ein sonderbares Gefühl der Sicherheit – mit ihnen scheine ich ein Stück Vergangenheit in der Hand zu halten. Überbleibsel einer Welt, in der es noch Hoffnung, Freude und eine Zukunft gab. Wie fragil jene Welt doch war. Sie basierte auf einem Gleichgewicht empfindlicher als diese Spinnwebe. Uralt ist sie; ein Atemhauch von mir genügt, um die Fäden zu zerreißen.
Wer weiß, seit wann die Spinne tot ist, die sie gewoben hat.
Wer ist zuerst gestorben, die letzte Spinne oder die letzte Fliege?, frage ich mich und lache über die Dummheit dieser Frage.
Als ob so etwas wichtig wäre.
Ich höre auf zu lachen, von einem Moment zum anderen.
Es wird Zeit loszugehen.
Erst als ich wieder draußen bin und durch den Schnee schlurfe, als ich eine gewisse Distanz zwischen mich und den Laden gebracht habe, erst dann denke ich daran, wie ich auf die Skelette hinabgesehen habe. Mit welcher Gleichgültigkeit. Es wäre meine Pflicht gewesen, ihnen die Letzte Ölung zu geben oder wenigstens ein Gebet für sie zu sprechen. Stattdessen habe ich sie nicht mit mehr innerer Anteilnahme betrachtet als den Kopf der toten Ratte, obwohl es Menschen gewesen sind.
Diese Stadt verändert mich.
Es liegt nicht an der Reise.
Es liegt an dieser Stadt.
Etwas zwischen den alten, verlassenen Gebäuden stellt alles in mir infrage und erschüttert meinen Glauben. Solange ich in Bewegung gewesen bin und immer wieder Neues entdeckt habe, hatte ich gar keine Zeit, über solche Dinge nachzudenken. Doch jetzt gräbt sich der Zweifel bis in den Kern meines Wesens …
Alessia fällt mir ein, wie ich sie unmittelbar nach dem Erwachen gesehen habe. Als ich glaubte, eine Katze zu erkennen, dicht neben mir. Nachdem ich im Traum von Bugs Bunny und dem Kojoten gesprochen habe. Jedenfalls hat sie behauptet, ich hätte im Traum gesprochen.
Aber wie unterscheidet man zwischen dem, was man geträumt und wirklich erlebt hat? Zwischen dem, was man nur gedacht und tatsächlich gesagt hat?
»Wieso ist dir der Zeichentrick-Hase in den Sinn gekommen?«, erklingt die Stimme einer Frau in meiner Nähe.
Alessias Stimme.
Ich wage es nicht, den Kopf zu drehen, aus Angst, niemanden neben mir zu sehen.
Und aus Furcht davor, eine schreckliche Entdeckung zu machen.
Ich vertraue dem, was ich höre, einer jungen, ruhigen Stimme, die mir eine Frage ins Ohr flüstert.
Ich gehe weiter und antworte erst nach zwei oder drei Schritten.
»Ich dachte an die Reise von Rom hierher. Ich habe sie mit einem der Zeichentrickfilme verglichen, in denen jemand durchs Leere geht und erst stürzt, als man ihm zeigt, dass er nichts unter den Füßen hat.«
»Verstehe. Aber was hat die Leere damit zu tun?«
Ich glaube zu sehen, wie Alessia die Schultern zuckt.
Ich schüttele den Kopf.
Die Versuchung, mich umzudrehen, ist sehr groß.
Vor meinem inneren Auge sehe ich ihr Gesicht, ihr Haar. Meine Erinnerung malt ein Bild von ihr.
»Die Leere ist diese Stadt«, erwidere ich. »Besser gesagt: Diese Stadt hat Leere in mir
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